Stetige Funktionen
Anschaulich bedeutet die Stetigkeit einer Funktion, dass die Funktion keine Sprünge macht, oder, etwas genauer, dass sich jeder Funktionswert f (a) nur wenig verändert, wenn sich das Argument a nur hinreichend wenig verändert.
Mit Hilfe von Grenzwerten können wir den Stetigkeitsbegriff präzise fassen. Im folgenden betrachten wir Funktionen f : A → ℝ mit einem prinzipiell beliebigen Definitionsbereich A ⊆ ℝ. Der Leser denke in erster Linie an Definitionsbereiche, die die Form eines Intervalls haben oder die die Vereinigung von endlich vielen Intervallen sind.
Wir definieren:
Definition (Stetigkeit)
Eine Funktion f : A → ℝ heißt stetig in a für ein a ∈ A, falls für alle Folgen 〈 xn | n ∈ ℕ 〉 in A gilt:
limn ∈ ℕ xn = a impliziert limn ∈ ℕ f (xn) = f (a).
Weiter heißt f stetig (schlechthin), falls f stetig in allen a ∈ A ist.
Im Stetigkeitsfall gilt also f (limn ∈ ℕ xn) = limn ∈ ℕ f (xn) für alle konvergenten Folgen 〈 xn | n ∈ ℕ 〉 in A, deren Grenzwert in A liegt.
Wir betrachten einige Beispiele für stetige und unstetige Funktionen. Die vielleicht einfachste Unstetigkeitsstelle ist die „Punktierung“ einer konstanten Funktion. Sei hierzu f : [ 0, 2 ] → [ 0, 2 ] mit f (x) = 1, falls x ≠ 1, und f (1) = 2. Dann
ist f unstetig im Punkt 1 und stetig in allen anderen Punkten des Intervalls [ 0, 2 ]. Zum Beweis der Unstetigkeit von f im Punkt 1 definieren wir eine Folge 〈 xn | n ∈ ℕ 〉 in [ 0, 2 ] durch xn = 1 + 1/2n für alle n. Dann gilt limn ∈ ℕ xn = 1, aber
limn ∈ ℕ f (xn) = limn ∈ ℕ 1 = 1 ≠ f (1).
Also ist f unstetig im Punkt 1. Ist aber x ∈ [ 0, 2 ], x ≠ 1, und ist 〈 xn | n ∈ ℕ 〉 eine gegen x konvergente Folge in [ 0, 2 ], so gibt es ein ε > 0 mit 1 ∉ [ x − ε, x + ε ] und ein n0 ∈ ℕ mit xn ∈ [ x − ε, x + ε ] für alle n ≥ n0. Dann gilt f (xn) = 1 für alle n ≥ n0. Also ist limn ∈ ℕ f (xn) = 1 = f (x). Dies zeigt, dass die Funktion f in allen von 1 verschiedenen Punkten ihres Definitionsbereichs stetig ist.
Wir können auch auf einer dichten Menge punktieren. Sei indℚ : ℝ → [ 0, 1 ] die Indikatorfunktion von ℚ, d. h. indℚ(x) = 1, falls x ∈ ℚ und indℚ(x) = 0 sonst. Der Leser zeigt leicht, dass diese Funktion in jedem x ∈ ℝ unstetig ist.
Als Nächstes betrachten wir die im folgenden Diagramm visualisierte Funktion g : [ 0, 1 ] → ℝ, die sich in immer schmäler werdenden Zacken der Höhe 1 der y-Achse annähert. Für jede Definition von g(0) ∈ ℝ ist diese Funktion unstetig im Punkt 0. Denn für jedes y ∈ [ 0, 1 ] gibt es eine gegen 0 konvergente Folge 〈 xn | n ∈ ℕ 〉 in [ 0, 1 ] mit g(xn) = y für alle n, sodass also limn ∈ ℕ g(xn) = y.
Jede konstante Funktion ist stetig. Weiter ist die Identität idA : A → ℝ stetig für alle A ⊆ ℝ. Sind f : A → B stetig in a und g : B → ℝ stetig in f (a), so ist auch die Verknüpfung h = g ∘ f stetig in a. Eine Untersuchung der Definition der Addition und der Multiplikation auf ℝ zeigt, dass die punktweise Addition und Multiplikation zweier stetiger Funktionen wieder stetig ist. Folglich ist jedes reelle Polynom f : ℝ → ℝ,
f (x) = an xn + an − 1 xn − 1 + … + a1 x + a0 für alle x ∈ ℝ,
eine stetige Funktion. Dagegen sind punktweise Limiten von Polynomen im Allgemeinen nicht mehr stetig:
Wir betrachten die Funktionen hn : [ 0, 1 ] → [ 0, 1 ], n ∈ ℕ, mit hn(x) = xn + 1 für alle x ∈ [ 0, 1 ]. Diese stetigen Funktionen verbinden die Punkte (0, 0) und (1, 1) durch immer flacher werdende Kurven. Für jedes x ∈ [ 0, 1 [ gilt limn ∈ ℕ hn(x) = 0, und damit konvergieren die Funktionen hn punktweise gegen die Funktion h mit h(x) = 0 für alle x ∈ [ 0, 1 [ und h(1) = 1. Die Stetigkeit von Funktionen kann bei einem punktweisen Grenzübergang also verloren gehen.
Wir diskutieren nun noch einige äquivalente Formulierungen der Stetigkeit. Die folgende sog. ε-δ-Stetigkeit ist vielleicht die direkteste Präzisierung der „kleinen Änderung von f (a) bei kleiner Änderung von a“:
Satz (ε-δ-Formulierung der Stetigkeit)
Sei f : A → ℝ, und sei a ∈ A. Dann sind äquivalent:
(a) | f ist stetig in a. |
(b) | ∀ε > 0 ∃δ > 0 ∀x ∈ A (|x − a| < δ → |f (x) − f (a)| < ε). |
Beweis
(a) ↷ (b):
Wir führen den Beweis indirekt. Sei also ε > 0 derart, dass für alle δ > 0 ein x ∈ A existiert mit |x − a| < δ und |f (x) − f (a)| ≥ ε.
Dann existiert für alle n ∈ ℕ ein xn ∈ A mit
|xn − a| < 1/2n und |f (xn) − f (a)| ≥ ε.
Dann konvergiert aber 〈 xn | n ∈ ℕ 〉 gegen a, während 〈 f (xn) | n ∈ ℕ 〉 nicht gegen f (a) konvergiert. Also ist f nicht stetig in a.
(b) ↷ (a):
Sei 〈 xn | n ∈ ℕ 〉 eine Folge in A mit limn xn = a. Wir zeigen limn f (xn) = f (a).
Sei hierzu ε > 0 beliebig. Für dieses ε sei nun δ > 0 wie in (b).
Wegen limn xn = a gibt es ein n0 derart, dass |xn − a| < δ für alle n ≥ n0. Nach Wahl von δ ist dann aber |f (xn) − f (a)| < ε für alle n ≥ n0.
Der Wertebereich stetiger Funktionen
Eine Funktion, die auf einem Intervall [ a, b ] definiert ist und sich dort stetig ändert, kann anschaulich keine Werte auslassen: Um von einem f (x) zu einem f (y) zu gelangen, muss jeder Wert z als Funktionswert angenommen werden, der zwischen f (x) und f (y) liegt. Diese Anschauung wollen wir nun präzisieren und beweisen.
Im folgenden sei stets [ a, b ] ein beschränktes reelles Intervall. Derartige Intervalle heißen auch kompakt. Wir nehmen zudem immer a < b an.
Zunächst zeigen wir:
Satz (Nullstellensatz)
Sei f : [ a, b ] → ℝ stetig, und f (a) und f (b) haben verschiedene Vorzeichen.
Dann gibt es ein c ∈ [ a, b ] mit f (c) = 0.
Beweis
Wir nehmen der Einfachheit halber an, dass f (a) < 0 und f (b) > 0 gilt.
Aus dem ε-δ-Kriterium folgt, dass für alle y ∈ ] a, b [ mit f (y) > 0 gilt:
(+) Es gibt ein δ > 0 mit: x ∈ [ a, b ] und f (x) > 0 für alle x ∈ ] y − δ, y + δ [.
Wir setzen X = { x ∈ [ a, b ] | f (x) > 0 }. Dann ist X nichtleer und beschränkt, also existiert x* = inf (X) ∈ [ a, b ]. Nach (+) und Definition von X ist f (x*) ≤ 0.
Wegen f (x*) ≤ 0 ist x* ∉ X und damit als Infimum von X ein Häufungspunkt von X. Also gibt es eine Folge 〈 xn | n ∈ ℕ 〉 in X mit limn xn = x*. Dann gilt f (x*) = limn f (xn) ≥ 0, da f (xn) ≥ 0 für alle n. Insgesamt also f (x*) = 0.
Aus diesem Satz folgt, dass jedes reelle Polynom f (x) = αnxn + … + α1x + α0 mit αi ∈ ℝ, αn ≠ 0, n ungerade, eine Nullstelle besitzt. Denn ist b > 0 genügend groß, so haben f(− b) und f (b) verschiedene Vorzeichen.
Aus dem Nullstellensatz folgt stärker:
Korollar (Zwischenwertsatz)
Sei f : [ a, b ] → ℝ stetig, und es gelte c, d ∈ rng(f) mit c < d.
Dann ist [ c, d ] ⊆ rng(f).
Beweis
Sei e ∈ ] c, d [. Sei c = f (a′), d = f (b′). Sei I das durch a′ und b′ gegebene nichtleere kompakte Intervall. Wir setzen
g(x) = f (x) − e für alle x ∈ I.
Dann ist g : I → ℝ stetig und g(a′) und g(b′) haben verschiedene Vorzeichen. Nach dem Nullstellensatz gibt es ein x mit g(x) = 0. Also ist
f (x) = g(x) + e = e.
Weiter existieren nun aber für stetige Funktionen auf kompakten Intervallen nicht nur Zwischen-, sondern auch Extremwerte:
Satz (Annahme von Maximum und Minimum)
Sei f : [ a, b ] → ℝ stetig. Dann gibt es ein c ∈ [ a, b ] mit
f (x) ≤ f (c) für alle x ∈ [ a, b ].
Analog existiert ein d ∈ [ a, b ] mit f (d) ≤ f (x) für alle x ∈ [ a, b ].
Beweis
Sei 〈 xn | n ∈ ℕ 〉 eine Folge in [ a, b ] mit:
(i) | limn f (xn) = sup(rng(f)), falls rng(f) nach oben beschränkt ist, |
(ii) | f (xn) ≥ n für alle n ∈ ℕ, sonst. |
Sei 〈 yn | n ∈ ℕ 〉 eine gegen c ∈ [ a, b ] konvergierende Teilfolge von 〈 xn | n ∈ ℕ 〉. Dann konvergiert 〈 f (yn) | n ∈ ℕ 〉 gegen f (c) und damit ist (ii) ausgeschlossen. Weiter ist f (c) = limn f (yn) = limn f (xn) = sup(rng(f)), also ist c wie gewünscht.
Insgesamt haben wir gezeigt:
Korollar (Wertebereich stetiger Funktionen auf kompakten Intervallen)
Sei f : [ a, b ] → ℝ stetig. Dann existieren c ≤ d mit rng(f) = [ c, d ].
Differentialquotienten
Zur Illustration des Stetigkeitsbegriffs definieren wir noch das grundlegende Konzept der Differentialrechnung, ohne es genauer zu untersuchen.
Ist g : ℝ → ℝ eine Gerade mit Steigung c, d. h. gilt g(x) = c x + d für ein d ∈ ℝ und alle x ∈ ℝ, so können wir die Steigung c dieser Funktion berechnen, sobald wir zwei Funktionswerte g(a) und g(b) mit a ≠ b kennen. Denn es gilt
(g(b) − g(a))/(b − a) = (cb + d − ca − d)/(b − a) = c.
Wir versuchen nun, die Steigung einer beliebigen Funktion f in einem Punkt a über den Quotienten (f (b) − f (a))/(b − a) zu erklären. Dies gelingt, wenn dieser Quotient gute Stetigkeitseigenschaften besitzt:
Definition (Differentialquotient)
Sei f : A → ℝ eine Funktion, und sei a ∈ A ein Häufungspunkt von A. Dann heißt f differenzierbar in a mit Differentialquotient oder Ableitung c ∈ ℝ, falls für jede gegen a konvergente Folge 〈 xn | n ∈ ℕ 〉 in A − { a } gilt:
c = limn ∈ ℕ f (xn) − f (a)xn − a .
Definieren wir h(x) = (f (x) − f (a))/(x − a) für x ∈ A − { a } und h(a) = c, so besagt die Differenzierbarkeit von f in a mit Differentialquotient c gerade, dass die Funktion h : A → ℝ stetig in a ist. Damit ist die Differenzierbarkeit von f eine Stetigkeitsforderung an eine mit Hilfe von f berechnete Funktion, und es ist nicht überraschend, dass diese Forderung die Stetigkeit der Funktion f im Punkt a impliziert.