Additivität und Stetigkeit von Wahrscheinlichkeitsmaßen
Die grundlegenden Eigenschaften eines Wahrscheinlichkeitsmaßes sind die folgenden:
Satz (Elementare Eigenschaften eines Wahrscheinlichkeitsmaßes)
Sei (A, μ) ein Wahrscheinlichkeitsraum. Dann gilt:
(W1) μ(∅) = 0, μ(A) = 1,
(W2) μ(B ∪ C) = μ(B) + μ(C) für alle disjunkten B, C ⊆ A, (Additivität)
(W3) μ(⋃n ∈ ℕ Bn) = supn ∈ ℕ μ(Bn) für alle B0 ⊆ … ⊆ Bn ⊆ … ⊆ A. (Aufwärts-Stetigkeit)
Der Beweis dieses Satzes sei dem Leser zur Übung empfohlen.
Ist umgekehrt A abzählbar und μ : ℘(A) → [ 0, 1 ] eine Funktion, die die Aussagen (W1) − (W3) erfüllt, so ist ν(a) = μ({ a }) für alle a ∈ A eine Verteilung der Eins, die μ induziert. Damit sind unsere Wahrscheinlichkeitsmaße genau die Funktionen μ mit den Eigenschaften (W1) − (W3).
Die Eigenschaften (W1) − (W3) werden in der allgemeinen Wahrscheinlichkeitstheorie zur Definition eines Wahrscheinlichkeitsraumes verwendet. Hier betrachtet man auch überabzählbare Grundmengen A. Zur Modellierung eines Bogenschusses auf eine Scheibe ist z. B. ein Kreis K ⊆ ℝ2 mit normierter Fläche 1 eine natürliche Grundmenge, und K ist überabzählbar. Ebenso liefert der unendliche Münzwurf die überabzählbare Grundmenge A aller Folgen 〈 bn | n ∈ ℕ 〉 mit bn ∈ { 0, 1 } für alle n ∈ ℕ. Für überabzählbare Grundmengen ist obiger Ansatz über Verteilungen der Eins nun nicht mehr allgemein geeignet. Dieses Phänomen ist für den intuitiven Flächenbegriff auf K, der wahrscheinlichkeitstheoretisch der Gleichverteilung auf K und damit dem zufälligen Bogenschuss entspricht, klar: Jede einpunktige Menge { a } hat Fläche 0, und damit ist die Fläche von K also nicht die Summe der Flächen seiner Punkte. Ebenso hat jede unendliche Folge in A beim unendlichen Münzwurf die Wahrscheinlichkeit 0, während alle Folgen zusammengenommen die Wahrscheinlichkeit 1 haben. Das ist irritierend genug, aber man wird sich damit anfreunden können, ohne diskrete Verteilungen der Eins zu leben und stattdessen eine Funktion μ : ℘(A) → [ 0, 1 ] ein Wahrscheinlichkeitsmaß zu nennen, falls die Aussagen (W1), (W2) und (W3) gelten. Hier taucht dann aber ein neues Problem auf: Es ist ungemein schwierig bis unmöglich, Wahrscheinlichkeitsmaße zu konstruieren, die auf allen Teilmengen eines überabzählbaren Grundraumes A definiert sind und für die μ({ a }) = 0 für alle a ∈ A gilt (vgl. die Übungen zu diesem Zwischenabschnitt). Man muss deswegen noch eine weitere und diesmal wirklich bittere Pille schlucken und den Definitionsbereich von Wahrscheinlichkeitsmaßen reduzieren. Hierzu eignen sich Mengensysteme, die unter abzählbaren Operationen abgeschlossen sind:
Definition (σ-Algebra)
Eine Mengenalgebra 𝒜 auf einer Menge A heißt eine σ-Algebra, falls für alle Folgen 〈 An | n ∈ ℕ 〉 in 𝒜 gilt, dass ⋃n ∈ ℕ An ∈ 𝒜.
Damit wird nun definiert:
Definition (allgemeiner Wahrscheinlichkeitsraum)
Sei 𝒜 eine σ-Algebra auf A, und sei μ : 𝒜 → [ 0, 1 ] ⊆ ℝ. Dann heißt μ ein Wahrscheinlichkeitsmaß auf 𝒜, falls gilt:
(W1) μ(∅) = 0, μ(A) = 1,
(W2) μ(B ∪ C) = μ(B) + μ(C) für alle disjunkten B, C ∈ 𝒜, (Additivität)
(W3) μ(⋃n ∈ ℕ Bn) = supn ∈ ℕ μ(Bn) für alle Bn ∈ 𝒜 mit B0 ⊆ … ⊆ Bn ⊆ … (Aufwärts-Stetigkeit)
In diesem Fall nennen wir (A, 𝒜, μ) einen Wahrscheinlichkeitsraum mit Grundmenge A und Ereignisraum 𝒜.
Wir wollten dem Leser diese Definition nicht vorenthalten, aber wir wollen nun auch gleich wieder zu den abzählbaren Wahrscheinlichkeitsräumen (A, μ) = (A, ℘(A), μ) zurückkehren. Die allgemeine Theorie verdient ein umfangreiches Vorspiel über Mengensysteme und die Konstruktion von Maßen auf σ-Algebren, für das hier nicht der Ort ist. Jedoch wollen wir der allgemeinen Theorie Tribut zollen, indem wir einige ihrer geistreichen Notationen importieren: