Einführung

Die systematisch definierende und beweisende Mathematik beginnt bei den alten Griechen. Im Zentrum stehen ideelle geometrische und arithmetische Objekte. In der Neuzeit setzte sich die Beschreibung der Geometrie mit Hilfe der Zahlen durch, und in der Moderne fand die Mathematik im scheinbar harmlosen Begriff der Menge ihren axiomatischen Grundbegriff, auf den im Verbund mit der mathematischen Logik jedes mathematische Objekt zurückgeführt werden konnte. Auf dieser Grundlage wurden die faszinierenden Landschaften der heutigen Mathematik errichtet. Das historische Erbe wurde vollständig integriert und in atemberaubender Form erweitert und neu interpretiert.

 Sich in diesem Land zurechtzufinden ist nicht leicht, denn man spricht dort eine eigene Sprache, die aufgrund ihrer einzigartigen Informationsdichte und Genauigkeit bewundert wird, aber auch als trocken und formal empfunden werden kann. Wenn man darüber nachdenkt, warum die moderne Mathematik so spricht wie sie spricht, lassen sich zwei Leitmotive ausmachen, die man mit „Konsistenz“ und „Weite“ bezeichnen kann.

Konsistenz

 Die Mathematik duldet keine inneren Widersprüche. Das war schon immer so, aber der Anspruch an Genauigkeit, Klarheit und Präzision wuchs mit der Mathematik, und in der Moderne sprang dieser Anspruch auf eine neue Stufe. Die Mathematik operiert heute sehr frei mit unendlichen Konstrukten, die wir in der Natur nicht wieder finden, die sich aber zu ihrer Beschreibung oft überraschend gut eignen. Dass das ideelle Feuer des Unendlichen beherrscht werden muss, zeigen die um 1900 zu datierenden Brandstellen der mengentheoretischen Paradoxien. Die Zähmung des Unendlichen gelang dann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wir wissen heute sehr viel über die Grundlagen der Mathematik, über Beweise, Mengen, Relationen, über algorithmisch berechenbare und allgemeine Funktionen und über die beiden Grundstrukturen der natürlichen und der reellen Zahlen. Der Erwerb und die Nutzung dieses Wissens führte zu einer tief greifenden Veränderung der bis ins 19. Jahrhundert üblichen mathematischen Sprache. Vergleicht man Lehrbücher und Forschungsarbeiten, die vor und nach diesem Übergang geschrieben wurden, so ist ein enormer Anstieg an Dichte, Formalismus, Komplexität, Symbolik und Systematik festzustellen. Wer anstrebt, Mathematiker zu werden, muss sich dieser Herausforderung stellen. Der Anfänger wird sich, wie ja auch viele Experten, nicht unbedingt mit Grundlagenfragen auseinandersetzen, aber er wird die Sprache der modernen Mathematik lernen wollen.

Weite

 Das Motiv der Weite lässt sich auch durch „Anspruch“, „Ziele“, „Niveau“ beschreiben, durch das, wie weit man kommen will. Die Sprache der modernen Mathematik ermöglicht viele Konstruktionen und Ergebnisse, die in früheren Zeiten undenkbar gewesen wären. Wir möchten diesen Gedanken durch drei weit über diesen Text hinausgehende Beispiele illustrieren. Viele andere könnten ebenso gut hier stehen.

 Als erstes Beispiel betrachten wir das klassische Problem der Bestimmung von Flächeninhalten. Bereits Archimedes konnte durch Ausschöpfung die Fläche von einfachen geometrischen Figuren berechnen, zu denen auch der Kreis gehörte. Eine allgemeine und flexible Methode stellte dann erst die Differential- und Integralrechnung von Leibniz und Newton zur Verfügung. Die Flächen- und Volumenberechnungen wurden, hatte man die neue Theorie erst einmal verinnerlicht, viel einfacher und auch in komplizierteren Fällen möglich. Weiter zeigte sich, dass das Integral in der Mathematik und in der mathematischen Naturbeschreibung an vielen Stellen eine zentrale Rolle spielt. In Folge des verallgemeinerten Funktionsbegriffs und der Untersuchung von Funktionen durch Fourierreihen wurde schließlich eine präzise Definition und genauere Untersuchung des Integrals notwendig. Dies führte Mitte des 19. Jahrhunderts zum Begriff der Riemann-Integrierbarkeit einer Funktion, und wenig später wurden auch die ersten detaillierten Konstruktionen der reellen Zahlen gegeben. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand dann Henri Lebesgue ein allgemeineres Integral, das durch seine guten „im höheren mathematischen Alltag“ benötigten Eigenschaften zu überzeugen wusste. Das Lebesgue-Integral wiederum bildete den Ausgangspunkt für das allgemeine maßtheoretische Integral, das heute insbesondere in der Wahrscheinlichkeitstheorie und Funktionalanalysis überall verwendet wird. Der Weg dorthin ist ohne die Beherrschung der mengentheoretischen Sprache und der Zahlen nicht zu gehen, und ohne ein hohes Maß an formaler Exaktheit und Sorgfalt hätte er nicht gegangen werden können.

 Ein zweites Beispiel bildet die 1995 von Andrew Wiles bewiesene Fermatsche Vermutung: Für alle natürlichen Zahlen n ≥ 3 ist die Gleichung an + bn = cn nicht in natürlichen Zahlen a, b, c ≥ 1 lösbar. Während etwa 32 + 42 = 52 und 52 + 122 = 132 gilt, gibt es also keine a, b, c ≥ 1 mit a3 + b3 = c3, und das Gleiche gilt für die Exponenten 4, 5, 6, … Das Problem ist für einige kleine Exponenten noch relativ einfach zu lösen, aber zur Lösung des allgemeinen Falls mussten Methoden der algebraischen Geometrie verwendet und Teilresultate mehrerer Mathematiker zusammengetragen und erweitert werden. Dies ist kein Einzelfall: Die Mathematik setzt heute sehr oft fortgeschrittene analytische oder algebraische Methoden ein, um Licht auf einfache Fragen über die natürlichen Zahlen zu werfen. Auch hier ist ein hohes Maß an Genauigkeit und komplexer Begriffsbildung unerlässlich, denn nur dadurch werden die Beweise überschau- und überprüfbar.

 Zuletzt sei mit dem zweiten Unvollständigkeitssatz von Kurt Gödel aus dem Jahr 1931 ein auch aus erkenntnistheoretischer Sicht tiefes mathematisches Ergebnis genannt. Grob formuliert besagt dieser Satz, dass eine hinreichend starke axiomatische Theorie ihre Widerspruchsfreiheit nicht beweisen kann (es sei denn, sie ist widerspruchsvoll, denn dann kann sie alles beweisen). Insbesondere können wir die Widerspruchsfreiheit der Zahlentheorie und damit auch der viel stärkeren mengentheoretisch fundierten Mathematik nicht mit endlichen kombinatorischen Methoden beweisen − wozu David Hilbert um 1920 im „Hilbertschen Programm“ aufgerufen hatte. Um einen derartigen Satz überhaupt erst formulieren und weiter dann beweisen zu können, ist eine mathematische Definition von „axiomatische Theorie“, „Beweis“ und „Widerspruchsfreiheit“ unerlässlich, d. h. es muss möglich sein, die Mathematik als formales System aufzufassen, das mit ganz im Endlichen verbleibenden Argumenten untersucht werden kann. Das Ergebnis von Gödel versieht dann das Motiv der Konsistenz mit einem bemerkenswerten Zusatz: Die Mathematik duldet keine inneren Widersprüche, aber sie kann nicht beweisen, dass keine Widersprüche vorhanden sind.

 Diesem „Ausblick vorab“ sei noch hinzugefügt, dass der Eingangsbereich der wissenschaftlichen Mathematik nicht nur die Grundlage für alles Weitere ist, sondern auch selbst bereits viel Interessantes zu bieten hat!