Die geometrische Deutung der Multiplikation

 Die Addition zweier komplexer Zahlen z1 und z2 hat als Vektoraddition eine sehr anschauliche Bedeutung: Wir fügen z2 an den Vektor z1 an und erhalten so die Summe z1 + z2. Die Multiplikation

z1 · z2  =  (x1x2 − y1y2,  x1y2 + y1x2)

ist zunächst nicht besonders anschaulich. Überraschenderweise besitzt auch sie eine einfache geometrische Interpretation. Hierzu beobachten wir, dass

i 2  =  i · i  =  −1,  i3  =  (−1) · i  =  −i,  i4  =  (−i) · i  =  1.

Die Potenzen von i durchlaufen also die Einheitsvektoren auf den Koordinatenachsen gegen den Uhrzeigersinn. Allgemein gilt für alle (x, y)  ∈  :

(x, y) · i  =  (x, y) · (0, 1)  =  (x · 0 − y · 1, x · 1 + y · 0)  =  (−y, x).

Der Vektor (−y, x) ist der um den Winkel π/2 gegen den Uhrzeigersinn gedrehte Vektor (x, y). Für alle komplexen Zahlen z gilt also:

i z  =  z i  =  „die Drehung von z um π/2 gegen den Uhrzeigersinn“.

Damit haben wir den Drehaspekt der komplexen Multiplikation entdeckt. Da die Skalarmultiplikation erhalten bleibt, ist folgende allgemeine Regel vielleicht nicht mehr überraschend:

Satz (Geometrische Multiplikationsregel)

Zwei komplexe Zahlen werden als Vektoren der Ebene multipliziert, indem ihre Längen multipliziert und ihre (mit der positiven x-Achse eingeschlossenen und gegen den Uhrzeigersinn gemessenen) Winkel addiert werden.

Beweis

Auf 2 definieren wir + als Vektoraddition und eine Multiplikation ∗ gemäß der Multiplikationsregel des Satzes. Die Körperaxiome lassen sich leicht nachweisen, sodass (2, +, ∗, 0, 1) ein Körper ist. Für alle x  ∈   und z  ∈  2 ist x ∗ z die Skalarmultiplikation von z mit x. Weiter gilt i2 = i ∗ i = −1. Nach unseren obigen Überlegungen ist ein Körper durch diese Eigenschaften eindeutig bestimmt, sodass unser Körper identisch mit  ist. Insbesondere ist also ∗ die komplexe Multiplikation.

 Der Beweis ist ein Paradebeispiel für die Stärke einer Charakterisierung: Sie erlaubt uns, zwei Operationen als gleich zu erkennen. Die komplexen Zahlen lassen sich durch „übliche Rechenregeln plus i2 = −1“ charakterisieren. Sowohl die algebraische als auch die geometrische Multiplikation erfüllen diese Eigenschaft, sodass sie zusammenfallen. Ohne diese Hilfe ist eine trigonometrische Gymnastik nötig, um die geometrische Multiplikationsregel zu beweisen.

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Die Multiplikation komplexer Zahlen: Wir multiplizieren die Längen und addieren die Winkel

Eigenschaften der komplexen Multiplikation

(1)

Liegen z und w auf dem Einheitskreis, so liegt auch das Produkt z w auf dem Einheitskreis.

(2)

Zur Bildung von z2 quadrieren wir die Länge von z und verdoppeln den Winkel. Analoges gilt für z3, z4, …, zn, …

(3)

Sind alle Komponenten von z und w ganzzahlig, so gilt dies auch für für das Produkt z w. (Dies ergibt sich direkt aus der algebraischen Definition des Produkts, für die geometrische Multiplikationsregel ist diese Eigenschaften nicht unmittelbar klar.) Eine analoge Aussage gilt für rationale Komponenten.

(4)

Das Produkt zweier komplexer Zahlen im ersten Quadranten liegt im ersten oder zweiten Quadranten. (Dies lässt sich sowohl aus der algebraischen Definition als auch aus der geometrischen Multiplikationsregel ablesen.)

(5)

Ein Produkt z w ist genau dann reell, wenn sich die Winkel von z und w zu 0 oder π addieren.