Die Folgenstetigkeit
Anschaulich können wir die Stetigkeit einer reellen Funktion so formulieren:
Die Funktion macht keine Sprünge.
Etwas genauer können wir das Nichtspringen an einer Stelle p des Definitionsbereichs einer Funktion f : P → ℝ so formulieren:
Strebt x gegen p, so streben die Funktionswerte f (x) gegen f (p).
Mit Hilfe des Grenzwertbegriffs für Folgen gelangen wir zu einer genauen Definition:
Definition (Folgenstetigkeit)
Sei f : P → ℝ, und sei p ∈ P. Dann heißt f folgenstetig an der Stelle p, falls gilt:
Für alle Folgen (xn)n ∈ ℕ in P mit limn xn = p gilt limn f (xn) = f (p).
Andernfalls heißt f folgenunstetig an der Stelle p. Wir nennen f folgenstetig, falls f folgenstetig für alle p ∈ P ist.
Bevor wir zu Beispielen und Gegenbeispielen kommen, betrachten wir drei wichtige Aspekte.
Punktweise Begriffsbildung
Die Stetigkeit ist ein Beispiel für einen lokalen Begriff. Die Eigenschaft wird zunächst für eine Stelle betrachtet. Gilt sie für alle Elemente des Definitionsbereichs, so kommt sie der ganzen Funktion zu. Die Differenzierbarkeit ist ein weiteres Beispiel hierfür, die Integrierbarkeit dagegen nicht.
Stetigkeit ist nur innerhalb des Definitionsbereichs erklärt
Die Stetigkeit ist nur für Elemente des Definitionsbereichs von f definiert. Ist f : ℝ* → ℝ die Funktion mit f (x) = 1/x für alle x ≠ 0, so ist f weder stetig noch unstetig im Nullpunkt, da f dort gar nicht definiert ist.
Vertauschbarkeit von Funktionsanwendung und Grenzwertbildung
In einer prägnanten Kurzfassung besagt die Stetigkeit von f:
limn f (xn) = f(limn xn)
Vertauschbarkeit von Operationen ist ein Grundmotiv der Mathematik. Der Leser denke an Rechenregeln wir = · . Diese Regel besagt, dass die Anwendung der Wurzelfunktion und die Multiplikation vertauschbar sind. Beispiele für Grenzwerte haben wir in den Limesregeln kennengelernt. So gilt etwa
limn (c xn) = c limn xn oder allgemeiner limn (xn · yn) = limn xn · limn yn.
Zur Folgenstetigkeit einer Funktion f an einer Stelle p ihres Definitionsbereichs:
Aus limn xn = p folgt stets limn f (xn) = f (p)
Grenzwertbildung und Funktionsanwendung sind vertauschbar: limn f (xn) = f(limn xn)).
Zur Folgenunstetigkeit von f an der Stelle p: Es gibt eine gegen p konvergente Folge (xn)n ∈ ℕ von Stellen, deren Funktionswerte nicht gegen f (p) konvergieren. Eine einfache Sprungstelle wie im Diagramm ist ein Beispiel für diese Situation.
+
Beispiele
(1) | Die Funktion abs : ℝ → ℝ mit abs(x) = |x| für alle x ∈ ℝ ist stetig. Der „Knick“ im Nullpunkt ist unproblematisch für die Stetigkeit. |
(2) | Die Funktionen x, x2, , 1/x, exp, log, sin, cos, … sind stetig (an allen Stellen ihrer Definitionsbereiche). Allgemeiner kann man zeigen, dass jede elementare Funktion stetig ist. |
(3) | Die Funktion f : ℝ → ℝ mit f (x) = 0 für x < 0 und f (x) = 1 für x ≥ 0 ist unstetig im Nullpunkt und stetig sonst. Das Gleiche gilt für die (dreiwertige) Vorzeichenfunktion sgn : ℝ → ℝ mit sgn(x) = −1 für x < 0, sgn(0) = 0 und sgn(x) = 1 für x > 0. |
(4) | Ist P ⊆ ℝ endlich, so ist jede Funktion f : P → ℝ stetig. Denn jede konvergente Folge in P ist schließlich konstant, und für diese Folgen ist die Stetigkeitsbedingung immer erfüllt. Auch alle Funktionen der Form f : ℕ → ℝ oder f : ℤ → ℝ sind stetig. |
Nachweis der Stetigkeit an einer Stelle p
Wollen wir zeigen, dass eine Funktion f : P → ℝ an der Stelle p stetig ist, so betrachten wir eine beliebige Folge (xn)n ∈ ℕ in P, die gegen p konvergiert. Wir zeigen nun, dass limn f (xn) = f (p). Hierzu überprüfen wir die Konvergenzbedingung für Folgen, d. h. wir zeigen:
∀ε > 0 ∃n0 ∀n ≥ n0 |f (xn) − f (p)| < ε.
Nachweis der Unstetigkeit an einer Stelle p
Wollen wir zeigen, dass eine Funktion f : P → ℝ an der Stelle p unstetig ist, so müssen wir eine gegen p konvergente Folge (xn)n ∈ ℕ in P finden, die eine der beiden folgenden Eigenschaften erfüllt:
(1) | Der Limes von (f (xn))n ∈ ℕ existiert, aber er ist von f (p) verschieden. |
(2) | Der Limes von (f (xn))n ∈ ℕ existiert nicht. |
Wir können die Unstetigkeit in zwei Typen unterteilen: Gibt es eine gegen p konvergente Folge (xn)n ∈ ℕ in P ∩ ] −∞, p [ (links von p) oder P ∩ ] p, ∞ [ (rechts von p), sodass limn f (xn) nicht existiert, so heißt p eine Unstetigkeitsstelle zweiter Art. Andernfalls heißt p eine Unstetigkeitsstelle erster Art.
Beispiele
(1) | Die Vorzeichenfunktion sgn : ℝ → ℝ hat eine Unstetigkeit erster Art bei 0. Allgemein gilt dies für jeden einfachen Sprung. |
(2) | Die Funktion f : ℝ → ℝ mit f (x) = sin(1/x), f (0) = 0 hat eine Unstetigkeit zweiter Art im Nullpunkt. Dies ist typisch für stark oszillierende Funktionen. Die Schwingungen verdichten sich bei 0, sodass wir eine gegen 0 konvergente Folge von Stellen finden können, deren Werte zwischen 1 und −1 springen. Wir diskutieren dies in den Übungen. |