Die Ableitung der Exponentialfunktion
Sie x ∈ ℝ beliebig. Dann gilt
exp(x) = 1 + x + x22 + x36 + x44! + x55! + … = ∑n xnn!
Behandeln wir diese unendliche Reihe wie ein Polynom, so erhalten wir
exp′(x) | = 0 + 1 + x + x22 + x36 + x44! + … |
= ∑n ≥ 1 n xn − 1n! = ∑n ≥ 1 xn − 1(n − 1)! = ∑n xnn! = exp(x). |
Man kann zeigen, dass gliedweises Differenzieren dieser Art korrekt ist. Die Summanden der Exponentialreihe verschieben sich beim Ableiten um eine Position nach links, sodass die Reihe reproduziert wird. Diese bemerkenswerte Eigenschaft lässt sich auch verwenden, um die Exponentialreihe zu motivieren: Sie ist so gemacht, dass das gliedweise Differenzieren die Reihe unverändert lässt. Die Fakultäten im Nenner gleichen die Faktoren aus, die beim Differenzieren der Monome xn entstehen. Die wohl besten Motivationen der Exponentialfunktion exp benötigen die Differentialrechnung − was ein didaktisches Problem darstellt, wenn die Funktion vor der Differentialrechnung eingeführt wird.
Mit Hilfe der Ableitungsregeln können wir nun zeigen:
Satz (Charakterisierung der Exponentialfunktion)
Die Exponentialfunktion exp : ℝ → ℝ (zur Basis e = exp(1)) ist die eindeutige differenzierbare Funktion f : ℝ → ℝ mit den Eigenschaften
f ′ = f, f (0) = 1.
Beweis
Es gilt exp(0) = 1 und gliedweises Differenzieren zeigt, dass exp′ = exp gilt. Zum Beweis der Eindeutigkeit sei f : ℝ → ℝ eine Funktion mit f ′ = f und f (0) = 1. Da exp(x) > 0 für alle x ∈ ℝ gilt, ist f/exp auf ganz ℝ definiert. Nach der Quotientenregel gilt
(fexp)′(x) = exp(x) f ′(x) − f (x) exp′(x)exp(x)2 = exp(x) f (x) − f (x) exp(x)exp(x)2 = 0.
Da genau die konstanten Funktionen die Ableitung 0 besitzen (anschaulich klar, aber nicht leicht zu beweisen), gibt es ein c ∈ ℝ mit
f (x)/exp(x) = c für alle x ∈ ℝ.
Wegen f (0) = 1 = exp(0) ist c = 1, sodass f (x) = exp(x) für alle x ∈ ℝ.
Sowohl die Existenz als auch die Eindeutigkeit einer Funktion f : ℝ → ℝ mit f ′ = f und f (0) = 1 lässt sich durch ein Diagramm veranschaulichen:
Die Differentialgleichung f ′ = f wird durch ihr Richtungsfeld visualisiert: An jeden Punkt (x, y) der Ebene heften wir den Vektor der Länge 1 an, dessen Steigung gleich y ist (im Diagramm sind die Pfeile mittig angeheftet). Jede differenzierbare Funktion, die den Pfeilen folgt, erfüllt f ′ = f. Eindeutigkeit wird durch Vorgabe eines Anfangswerts erreicht. Für den Anfangswert f (0) = 1 erhalten wir die Exponentialfunktion zur Basis e. Allgemein ergibt sich die Funktion c exp für den Anfangswert f (0) = c. Keine andere Basis ist geeignet (vgl. die Berechnung der Ableitung von expa unten)!
Gewinnung des Additionstheorems
Aus dem Charakterisierungssatz lässt sich das Additionstheorem herleiten. Sei hierzu y ∈ ℝ beliebig. Wir definieren f : ℝ → ℝ durch
f (x) = exp(x + y)exp(y) für alle x ∈ ℝ.
Dann gilt
f ′(x) = f (x) und f (0) = exp(0 + y)/exp(y) = 1.
Folglich ist f = exp und damit
exp(x + y) = f (x) exp(y) = exp(x) exp(y) für alle x ∈ ℝ.