Die Eulersche Formel

 Wir betrachten die komplexe Exponentialfunktion exp :   . Wie im Reellen ergibt sich d/dz ez = ez durch gliedweises Differenzieren der Exponentialreihe exp(z) = 1 + z + z2/2 + …  +  zn/n! + … Die Kettenregel liefert

ddx eiz  =  i eiz  für alle z  ∈  ,

was einer Drehung von eiz um π/2 entspricht. Damit können wir zeigen:

Satz (Eulersche Formel)

exp(i x)  =  cos(x)  +  i sin(x)  für alle x  ∈  (Eulersche Formel)

Beweis

Sei x  ∈  . Dann gilt

exp(ix)  =  n (ix)n/n!  =  n (ix)n/n!  =  n (−ix)n/n!  =  exp(−i x).

Hieraus erhalten wir

|ei x|2  =  eix eix  =  eix e−ix  =  eix − ix  =  e0  =  1.

Damit liegt eix auf dem Einheitskreis

K  =  { (cos(t), sin(t)) | t  ∈   }  =  { cos(t) + i sin(t) | t  ∈   },  mit

ei0  =  1  =  cos(0)  +  i sin(0)  ∈  K.

Folglich gibt es eine differenzierbare Funktion φ :    mit

(1)  eix  =  cos(φ(x))  +  i  sin(φ(x))  für alle x  ∈    (2)  φ(0)  =  0

Die φ-Funktion gibt in stetiger Weise den Winkel von eix an, wobei wir den Winkel 0 für x = 0 wählen. Nach (1) genügt es zu zeigen, dass φ(x) = x für alle x  ∈  . Hierzu rechnen wir:

cos(φ(x))  +  i sin(φ(x)) =  eix  =  (− i) i ei x  =  − i ddx eix
=  − i ddx (cos(φ(x)) + i sin(φ(x)))
=  − i (− sin(φ(x)) φ′(x)  +  i cos(φ(x)) φ′(x))
=  (cos(φ(x))  +  i sin(φ(x))) φ′(x)

Dies zeigt, dass φ′ konstant gleich 1 ist. Folglich gibt es ein c mit φ(x) = x + c für alle x  ∈  . Wegen φ(0) = 0 ist c = 0 und damit φ(x) = x für alle x  ∈  .

 Die Eulersche Formel lässt sich wie folgt anschaulich formulieren:

Kreisaufwicklung der komplexen Exponentialfunktion

Die komplexe Exponentialfunktion wickelt die imaginäre Achse { i x | x  ∈   } längentreu und gegen den Uhrzeigersinn auf den Einheitskreis K auf (mit Start im Punkt 1 für x = 0). Es gilt:

ei x  =  (1, x)polar  für alle x  ∈  .

Ist z = x + i y  ∈  , so gilt

ez  =  ex + i y  =  ex ei y  =  (ex, y)polar

ez + i 2π  =  ex ei (y + 2π)  =  (ex, y + 2π)polar  =  (ex, y)polar  =  ez(Periodizität)

Der Faktor ex gibt den Radius von ez an, der Imaginärteil y von z das Argument von ez. Die komplexe Exponentialfunktion kombiniert das reelle Wachstum mit einer Drehung. Im Imaginärteil hat ez die Periode 2π. Wir erhalten:

Abbildungseigenschaften der komplexen Exponentialfunktion

Die Funktion ez bildet jeden waagrechten halboffenen Streifen

{ x + i y | x  ∈  , y  ∈  I } ⊆ 2 ,  I ⊆  ein halboffenes Intervall der Länge 2π

bijektiv auf die Ebene ohne den Nullpunkt ab. Der links (rechts) der y-Achse liegende Teil des Streifens wird dabei in das Innere (Äußere) des Einheitskreises abgebildet, der auf der y-Achse liegende Anteil { i y | y  ∈  I } durchläuft einmal den Einheitskreis.

 Bevor wir diese Eigenschaften durch Diagramme illustrieren, halten wir noch zwei Folgerungen aus der Kreisaufwicklung fest:

Die Eulersche Identität

Spezielle Werte der Kreisaufwicklung sind die vierten Einheitswurzeln:

exp(0 i)  =  1,  exp(i π/2)  =  i,  exp(i π)  =  −1,  exp(i 3π/2)  =  −i

Die dritte Aussage wird oft in der Form

ei π + 1  =  0(Eulersche Identität, „schönste Formel der Mathematik“)

notiert, in der die fünf fundamentalen Größen 0, 1, i, e, π vereint sind.

Komplexe Einheitswurzeln

Allgemeiner lassen sich die n-ten Einheitswurzeln, n ≥ 1, mit ez beschreiben:

ζnk  =  (cos (k 2πn),  sin (k 2πn))  =  ei k 2π/n  für alle k  ∈  .

Dies vereinfacht das Rechnen. Für alle k, m  ∈   gilt zum Beispiel:

ζnk ζnm  =  exp(ik 2π/n) exp(im 2π/n)  =  exp(i (k + m) 2π/n)  =  ζnk + m.

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Noch einmal unser Farbkreis (mit polarem Gitter) zur Visualisierung einer komplexen Funktion f : P   mit P ⊆ . Für jedes z  ∈  P wird der Punkt z mit der Farbe f (z) des Farbkreises eingefärbt.

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Farbplot der komplexen Exponentialfunktion exp :   .

Zum Farbplot der komplexen Exponentialfunktion

(1)

Entlang der y-Achse werden die Farben des Einheitskreises mit der Periode 2π durchlaufen (Kreisaufwicklung). Allgemeiner werden entlang der Senkrechten durch x  ∈   die Farben des Kreises mit Radius ex > 0 durchlaufen, ebenfalls mit der Periode 2π.

(2)

Auf der x-Achse werden die positiven reellen Zahlen durchlaufen (hellblauer Grundwert), mit dem Wachstumsverhalten der reellen Exponentialfunktion. Allgemeiner wird entlang der Waagrechten durch y  ∈   der dem Winkel y entsprechende Halbstrahl des Farbkreises durchlaufen. Für y = −2π/3 erhalten wir beispielsweise Farben mit gelbem Grundwert.

(3)

Die komplexe Exponentialfunktion hat keine Nullstellen. Jeder andere Wert in  wird unendlich oft angenommen (in jedem halboffenen Streifen der Breite 2π genau einmal). Es gilt f(z + i k2π) = f (z) für alle z  ∈   und k  ∈  .

(4)

Die kräftigen Farben links der y-Achse entsprechen den Farben des Farbkreises innerhalb des Einheitskreises. Analog entsprechen die blasseren Farben rechts der y-Achse den Farben außerhalb des Einheitskreises. Die Farben verblassen nach rechts exponentiell.

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Partialsummen von exp: Farbplot der Funktion f3 :    mit

f3(z)  =  1 + z + z22 + z36

Das radiale Gitter wurde hier um im Folgenden auf die Werte 1, 4, 9, 16, 25, … reduziert.

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f4 :     mit  f4(z)  =  1 + z + z22 + z36 + z424

hm1-AbbIDexp_complex_col_1dx

f5 :     mit  f5(z)  =  1 + z + z22 + z36 + z424 + z5120