Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung
Integrale lassen sich bislang nur sehr mühsam berechnen. Dies ändert sich grundlegend durch den Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung. Hierzu definieren wir allgemein für reelle Funktionen:
Definition (Stammfunktion)
Sei f : P → ℝ. Eine Funktion F : P → ℝ heißt eine Stammfunktion von f, falls F′ = f.
Ist F eine Stammfunktion von f, so gilt dies auch für F + c mit einer beliebigen Konstanten c ∈ ℝ. Sind F und G Stammfunktionen, so gilt
(F − G)′ = F′ − G′ = f − f = 0,
sodass F − G konstant ist. Kurz:
Eine Stammfunktion ist bis auf eine Konstante eindeutig bestimmt.
Damit können wir nun formulieren:
Satz (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung, HDI)
Sei f : [ a, b ] → ℝ integrierbar, und sei F eine Stammfunktion von f. Dann gilt
∫ba f = F(b) − F(a).
Nur für sehr einfache Funktionen lässt sich eine Stammfunktion raten oder leicht finden. Integrieren ist schwieriger als Differenzieren. Wir werden aber im nächsten Kapitel Integrationsregeln kennenlernen, mit deren Hilfe wir viele Integrale mehr oder weniger leicht berechnen können.
Die Auswertungsnotation
Wir setzen
= = = = F(b) − F(a).
Zur Verdeutlichung schreiben wir die Grenzen auch in der Form „x = a“ bzw. „x = b“.
Damit können wir den Hauptsatz kurz so formulieren:
∫ba f (x) dx = oder ∫ba ddxF(x) dx = .
Differenzieren und Integrieren sind in diesem Sinne invers zueinander.
Beispiele
(1) | Für alle a, b ∈ ℝ (auch für b < a) gilt ∫ba x4 dx = = b5 − a55. |
(2) | ∫21 1x dx = = log(2) − log(1) = log(2). |
(3) | ∫10 11 + x2 dx = = arctan(1) − arctan(0) = π4. |
Zum Beweis des Hauptsatzes
Der Hauptsatz ist nicht leicht zu beweisen. Seine Gültigkeit lässt sich aber plausibel machen. Die erste Argumentation kommt einem Beweis nahe:
Argumentation mit Riemann-Summen
Sei p = (tk, xk)k < n eine sehr feine Partition von [ a, b ]. Mit der Notation ∼ für „ungefähr gleich“ gilt:
∫ba f | ∼ ∑p f = ∑k < n f (xk) (tk + 1 − tk) |
= ∑k < n F′(xk) (tk + 1 − tk) | |
∼ ∑k < n F(tk + 1) − F(tk)tk + 1 − tk (tk + 1 − tk) | |
= ∑k < n (F(tk + 1) − F(tk)) = F(tn) − F(t0) = F(b) − F(a). |
Die letzte Summe ist eine Teleskop-Summe. Nur der erste und letzte Summand bleiben übrig, alle anderen haben sich auf. Durch Grenzwertüberlegungen ergibt sich Gleichheit statt ∼.
Argumentation mit infinitesimalen Größen
Wir interpretieren das Integral als Summe von infinitesimalen Rechtecksflächen f (x) · dx und die Ableitung als infinitesimalen Quotienten dF(x)/dx. Dann können wir dx bei der Integration kürzen:
∫ba f (x) dx | = ∫ba F′(x) dx = ∫ba dF(x)dx dx |
= ∫ba dF(x) = F(b) − F(a). |
Zuletzt haben wir eine „infinitesimale Teleskop-Summe“ berechnet.
Zum Beweis des Hauptsatzes mit Riemann-Summen: Gezeigt sind eine Funktion f : [ a, b ] → ℝ, Partitionsintervalle (zunächst ohne Stützstellen) und die stückweise konstante Funktion d : [ a, b ] → ℝ, die auf den Partitionsintervallen die Werte
F(tk + 1) − F(tk)tk + 1 − tk
besitzt, wobei F eine Stammfunktion von f ist. Die signierte Fläche von d ist
∑k < n F(tk + 1) − F(tk)tk + 1 − tk (tk + 1 − tk) = F(b) − F(a)
Wissen wir, dass d für beliebig feine Partitionsintervalle einer Riemann-Summe von f entspricht (d. h. die Werte der Treppenfunktion d werden durch f in den Partitionsintervallen an gewissen Stützstellen angenommen), so folgt der Hauptsatz.
Wie oben, mit einer feineren Partition