Das Integral als Mittelwert
Neben der geometrisch sehr anschaulichen Interpretation als signierter Flächeninhalt lässt sich ein Integral auch als Mittelwert auffassen. Diese Sicht ist in den Naturwissenschaften und der Technik vorherrschend, innerhalb der Mathematik treffen wir sie auch in der Wahrscheinlichkeitstheorie bei der Berechnung von Erwartungswerten für Zufallsvariablen an.
Um von den signierten Flächen zu den Mittelwerten zu gelangen, betrachten wir zunächst eine auf dem Einheitsintervall definierte integrierbare Funktion f : [ 0, 1 ] → ℝ. Ist c das Integral von f, so haben f und die konstante Funktion auf [ 0, 1 ] mit Wert c dasselbe Integral:
∫10 f (x) dx = ∫10 c dx = c.
Wir können c als den Mittelwert von f interpretieren. Allgemein definieren wir:
Definition (Mittelwert)
Sei f : [ a, b ] → ℝ integrierbar. Dann heißt
M(f) = 1b − a ∫ba f (x) dx
der Mittelwert von f.
Der Mittelwert c der Logarithmusfunktion auf dem Intervall [ 1, e ]. Die Inhalte der Flächen unter den beiden Funktionen stimmen überein. Es gilt
c = 1e − 1 = 0,581977… mit 1 = ∫e1 log(x) dx.
Zur Berechnung des Integrals verwenden wir wieder die Stammfunktion x(log(x) − 1) des Logarithmus.
Der Mittelwert berechnet sich nach der Formel „Integral durch Intervall-Länge“. Für alle a < b hat die konstante 1-Funktion auf dem Intervall [ a, b ] den Mittelwert 1.
Mittelwerte tauchen in vielen Kontexten auf. Wir können zum Beispiel
M(f) = 1b − a ∫ba f (t) dt
als die Durchschnittstemperatur eines Körpers ansehen, der zur Zeit t ∈ [ a, b ] die Temperatur f (t) besitzt. Die Situation ist vergleichbar mit der Interpretation der Ableitung: Geometrische Steigungen können physikalische Geschwindigkeiten und vieles andere mehr sein. Die Interpretation fundamentaler Begriffe ist vielfältig. Beim Differenzieren geht es dabei immer um die lokale Änderung, beim Integrieren um das globale Aufsammeln von Funktionswerten.