12. Kardinalzahlen und ihre Arithmetik
In diesem Kapitel fassen wir zum ersten Mal für jede Menge M die Mächtigkeit oder Kardinalzahl |M| von M als ein Objekt auf. Auf die Probleme einer genauen Definition haben wir in Kapitel 4 bereits hingewiesen. Die intuitive Begriffsbildung durch Abstraktion, wie sie Cantor vorgeschlagen hat, kann man nicht als extensionale mengentheoretische Definition auffassen. Der Leser wird aber wohl nach allem, was bisher geschah, mit dem Ausdruck „die Mächtigkeit der reellen Zahlen“ schon lange etwas anfangen können. Etwas locker kann man das Vorgehen dieses Kapitels so beschreiben: Schauen wir einfach mal, was passiert, wenn wir |M| als Objekt zulassen, und mit diesen Objekten rechnen wollen. Bei diesem Vorhaben verwenden wir Kardinalzahlen dann streng genommen nur als ein bequemes Notationssystem: 𝔞 · 𝔟 = 𝔟 · 𝔞 schreibt sich viel einfacher und sieht viel besser aus als |A × B| = |B × A|.
Felix Hausdorff begnügte sich mit einem ähnlich „formalen Standpunkt“:
Hausdorff (1914):
„Mengen eines Systems, die einer gegebenen Menge und damit auch untereinander äquivalent sind, haben etwas Gemeinsames, das im Falle endlicher Mengen die Anzahl der Elemente ist und das man auch im allgemeinen Falle die Anzahl oder Kardinalzahl oder Mächtigkeit nennt. Über die absolute Beschaffenheit dieses neu eingeführten Etwas kann man allerhand verschiedene Auffassungen hegen. G. Cantor definiert die Mächtigkeit einer Menge als den Allgemeinbegriff, der durch Abstraktion von der individuellen Beschaffenheit ihrer Elemente entsteht. B. Russell definiert sie geradezu als die Gesamtheit oder Klasse ‚aller‘ mit jener Menge äquivalenten Mengen; dies halten wir bei der uferlosen und antinomischen Beschaffenheit dieser Klasse für bedenklich. Wenn wir analoge Beispiele aus anderen Gebieten der Mathematik heranziehen, wird die gegenwärtige Situation nicht klarer; denn wenn wir kongruenten Punktpaaren eine gemeinsame ‚Entfernung‘, parallelen Geraden eine gemeinsame ‚Richtung‘, ähnlichen Figuren eine gemeinsame ‚Form‘ beilegen, so können ja diese Begriffe außerdem wirklich durch Strecken, Winkel oder Zahlen präzisiert werden. Andererseits könnte man den Begriff der Mächtigkeit freilich entbehren und alles auf die Betrachtung äquivalenter Mengen beschränken, worunter aber die Bequemlichkeit des Ausdrucks erheblich leiden würde. Übrigens ist darauf aufmerksam zu machen, dass die genannten Schwierigkeiten auch schon bei endlichen Mengen bestehen, wo es ja an verschiedenen Auffassungen des Zahlbegriffs durchaus nicht mangelt. Wir werden uns einfach auf den formalen Standpunkt stellen und sagen: einem System von Mengen A ordnen wir eindeutig ein System von Dingen 𝔞 zu derart, dass äquivalenten Mengen und nur solchen dasselbe Ding entspricht, d. h. dass aus A ∼ B [ |A| = |B| ] immer 𝔞 = 𝔟 folgt und umgekehrt. Diese neuen Dinge oder Zeichen nennen wir Kardinalzahlen oder Mächtigkeiten; wir sagen: A hat die Mächtigkeit 𝔞, A ist von der Mächtigkeit 𝔞, 𝔞 ist die Mächtigkeit von A, wohl auch (indem wir 𝔞 als Zahlwort verwenden) A hat 𝔞 Elemente.“
Diese Definition von Kardinalzahlen per Ritterschlag ließe sich mathematisch etwa so formulieren. Sei S eine Menge (intuitiv eine umfassende Menge, bei Hausdorff System genannt). Sei K = S/∼ die Menge der Äquivalenzklassen der Relation „gleichmächtig“ auf S, d. h.
S/∼ = { { B ∈ S | A und B sind gleichmächtig } | A ∈ S }.
Wir definieren nun eine Funktion F auf S/∼ durch:
F(X) = „ein A ∈ X“ für X ∈ S/∼.
Für A ∈ S können wir die Kardinalzahl oder Mächtigkeit |A| von A definieren:
|A| = F(XA), wobei XA das eindeutige X ∈ S/∼ ist mit A ∈ X.
Dieses Vorgehen liefert eine abstrakte, aber einwandfreie Definition des Kardinalzahlbegriffs für Elemente einer beliebig großen, aber fest gewählten Menge S. Für alle A ∈ S ist |A| definiert, und |A| ist zudem ein Objekt, das mit A gleichmächtig ist. (Verzichten wir hierauf, kann man auch |A| = XA setzen.)
Da S beliebig groß gewählt und gegebenenfalls erweitert werden kann, scheint dies ein brauchbares Vorgehen für alle praktischen Belange zu sein. Es ist aber alles andere als schön, eher eine Notlösung: Welche Mengen den Ritterschlag Kardinalzahl bekommen, bleibt unklar, da Kardinalzahlen über ein abstraktes „ein …“ erhalten worden sind. Und |A| ist immer nur für bestimmte Mengen definiert, nämlich für A ∈ S. („S = Alles“ ist nicht möglich, wie wir in Abschnitt 13 sehen werden.) Zudem ist das Vorgehen auch praktisch nicht unproblematisch, da wir mit Kardinalzahlen frei operieren wollen, und es geht ja nicht zuletzt um die Freiheit und „Bequemlichkeit des Ausdrucks“. Soll bei jeder Operation wieder eine Kardinalzahl herauskommen, so müssen wir prüfen, ob S reichhaltig genug war, ein Ergebnis zur Verfügung zu stellen. Für kleine Operationen wie Summe und Produkt zweier Kardinalzahlen wäre dies leicht zu sichern, aber ein Produkt über sehr viele |A| werden wir i. A. nicht ausführen können, obwohl sich eine natürliche Definition für Produkte mit beliebig vielen Faktoren anbieten wird. Außerdem wird der nimmermüde Geist fragen: Was ist |S|?
Diese mengentheoretische Interpretation des Hausdorffschen Zeichensystems liefert also wieder keine befriedigende Definition. Wir müssen das obige Zitat, wohl weitestgehend der Intention Hausdorffs entsprechend, den Beschreibungen von Cantor und Fraenkel aus Kapitel 4 an die Seite (oder gegenüber) stellen. Diese Beschreibungen fördern die Intuition und den Blick fürs Wesentliche ungemein, lösen aber das definitorische Problem nicht.
Es bleibt der Verweis auf die prinzipielle Entbehrlichkeit von Kardinalzahlen. Die prinzipiell mögliche Rückübersetzung von Aussagen mit Kardinalzahlen in relationale Aussagen, die nur |A| = |B|, |A| ≤ |B|, usw. enthalten, ist es, die uns rettet, und die Aufnahme einer definitorischen Hypothek akzeptabel macht.
Die Ergebnisse des Folgenden werden dann also auch bei allen Vorbehalten gegen |M| als Objekt, die der streng klösterliche Blick geltend machen kann, selbst vom Papst gebilligt werden müssen; an der mathematischen Keuschheit der Inhalte besteht kein Zweifel, auch wenn ihre Darstellung etwas sinnlichere Züge annimmt.
Es ist interessant, dass Hausdorff seinen „formalen Standpunkt“ in der zweiten, vielfach umgeschriebenen Auflage seines Buches sogar noch verschärft hat. Insbesondere fällt die Einschränkung auf ein System ganz weg (wie auch schon in der 1914-Fassung an späterer Stelle bei einer analogen Definition des „Ordnungstypus“ einer Menge), und es gibt einen neuen, elegant formulierten Zusatz eines Autors, der sein eigenes Werk überarbeitet, und auf ein notorisches Problem etwas genervt reagiert:
Hausdorff (1927):
„… D. h. wir ordnen jeder Menge A ein Ding 𝔞 zu derart, dass äquivalenten Mengen und nur solchen dasselbe Ding entspricht:
𝔞 = 𝔟 soviel wie A ∼ B.
Diese neuen Dinge nennen wir Kardinalzahlen oder Mächtigkeiten…
Diese formale Erklärung sagt, was die Kardinalzahlen sollen, nicht was sie sind. Prägnantere Bestimmungen sind versucht worden, aber sie befriedigen nicht und sind auch entbehrlich. Relationen zwischen Kardinalzahlen sind nur ein bequemer Ausdruck für Relationen zwischen Mengen: das ‚Wesen‘ der Kardinalzahl zu ergründen müssen wir der Philosophie überlassen.“
Es gab 1927 bereits eine befriedigende Definition innerhalb der Mengenlehre, ganz ohne Philosophie. Wir werden sie im zweiten Abschnitt diskutieren.