Kardinalzahlen

 Hier nun also, nach hoffentlich ausreichendem Vorspiel auf dem Theater, die definitorische Hypothek dieses ersten Akts:

Definition (Kardinalzahlen)

Die Mächtigkeiten von Mengen heißen Kardinalzahlen. Die Kardinalzahl einer Menge M wird mit |M| bezeichnet. |M| heißt die Kardinalität oder Mächtigkeit von M.

 „Mächtigkeit“ verwendet Cantor relational für zwei Mengen seit etwa 1877, die in Kapitel 4 wiedergegebene Definition steht ganz zu Beginn seiner 1878 erschienenen Arbeit. Einen selbständigen Mächtigkeitsbegriff, der die natürlichen Zahlen umfasst, diskutiert er ausführlich 1882. Am Ende der Arbeit von 1878 deutet sich ein selbständiger Begriff der „Mächtigkeit einer Menge“ bereits an. Entnommen hat Cantor das Wort einer Vorlesung von Jacob Steiner (1796 − 1863):

Cantor (1882b):

„Den Ausdruck ‚Mächtigkeit‘ habe ich J. Steiner entlehnt *) [*) = M. s. dessen Vorlesung über synthetische Geometrie der Kegelschnitte, herausgeg. von Schröter; § 2.] der ihn in einem ganz speziellen, immerhin jedoch eng verwandten Sinne gebraucht, um auszusprechen, dass zwei Gebilde durch projektivische Zuordnung [bijektiv aufeinander abgebildet werden können].“

 Gleichwertig zu „Mächtigkeit einer Menge“ verwendet Cantor ab 1887 „Kardinalzahl einer Menge“, definiert als „universale“ (vgl. 1. 4). Der Gedanke an ranghohe Geistliche liegt nahe. Die Kardinäle selber haben ihren Namen von lateinisch cardo, Türangel, was sich als metaphorischer Kaffeesatz für „an einer wichtigen Stelle“ anbietet, und als cardinalis dann ein Wort für grundlegend, wichtig liefert. (Siehe Duden 7 für Details.) Kardinalzahlen sind also wahrhaft Dreh- und Angelpunkte der Mengenlehre!

 Traditionell werden kleine Fraktur-Buchstaben 𝔞, 𝔟, 𝔠, … für Kardinalzahlen verwendet. (Der mit Stift und Papier bewehrte Leser kann sich ohne Verlust mit a, b, c, … begnügen.)

 Für einige spezielle Kardinalzahlen gibt es spezielle natürliche und daneben auch traditionelle Bezeichnungen. Zunächst zeichnen wir die natürlichen Zahlen als Kardinalitäten aus:

Definition (die Kardinalitäten n  ∈  )

Für alle n  ∈   wird die Kardinalität von |n| mit n bezeichnet. Jedes n  ∈   heißt eine endliche Kardinalität. Die anderen Kardinalitäten heißen unendliche Kardinalitäten.

 Die Definition bevorzugt -Endlichkeit gegenüber der Dedekind-Endlichkeit, was im Umfeld von Zahlen häufig geschieht.

 Jedes n  ∈   ist damit eine Kardinalzahl. Es gilt |M| = n genau dann, wenn |M| = |n| gilt, d. h. genau dann, wenn M genau n Elemente besitzt.

 Für die abzählbaren Mengen hat Cantor den ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets, verziert mit dem Index Null, gewählt:

Definition (die Kardinalität 0)

Die Kardinalität von  wird mit 0 [ aleph 0 ] bezeichnet.

Cantor (1895):

§ 6. Die kleinste transfinite Kardinalzahl Alef-null.

 Die Mengen mit endlicher Kardinalzahl heißen ‚endliche Mengen‘, alle anderen wollen wir ‚transfinite Mengen‘ und die ihnen zukommenden Kardinalzahlen ‚transfinite Kardinalzahlen‘ nennen.

 Die Gesamtheit aller endlichen Kardinalzahlen ν bietet uns das nächstliegende Beispiel einer transfiniten Menge; wir nennen die ihr zukommende Kardinalzahl (§1) ‚Alef-null‘, in Zeichen 0, definieren also

0  =  { ν }. [ 0 = |{ ν | ν  ∈   }| ]

Die Zahl 0 ist größer als jede endliche Zahl…

Andererseits ist 0 die kleinste transfinite Kardinalzahl…“

 Diese von Cantor geliebte Bezeichnung hat eine gewisse mystische Kraft und ist weithin bekannt geworden. Der Leser wird vielleicht die Erzählung „Das Aleph“ des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges kennen. (Wer Borges nicht kennt, kennt ihn doch: Er steht hinter Jorge von Burgos, dem Bibliothekar in Umberto Ecos „Name der Rose“.) In „Das Aleph“ heißt es etwa: „Ich stieg heimlich hinunter, rutschte auf der verbotenen Treppe aus, fiel hin. Als ich die Augen aufschlug, sah ich das Aleph.“ Und zum Zeichen  selbst: „…auch wurde gesagt, dass das Aleph die Gestalt eines Menschen habe, der auf den Himmel und die Erde zeigt, um anzudeuten, dass die untere Welt Spiegel und Kartenbild der oberen sei.“ Mathematisch ist das Objekt 0 die heißumkämpfte und lange verbotene Schnittstelle zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit. Sobald man es sieht, gibt es kein Halten mehr, und sobald man es hat, beginnt die Mengenlehre. In dieser ist dann auch das Spiegel-Bild oft formuliert worden: Wir übertragen unsere endliche Intuition über Mengen so weit wie möglich auf den unendlichen Bereich.

 Höher indizierte Alephs und einige weitere hebräische Buchstaben werden später noch Verwendung finden. Bislang unbenutzt in der Mengenlehre blieben die Zeichen des Sanskrit …

 Es gilt |M| = 0 für jede abzählbar unendliche Menge.

 Eine traditionelle Bezeichnung für || ist 𝔠, was an „Continuum“ erinnert. Wir folgen dieser Tradition weitgehend, verwenden aber 𝔠 auch, insbesondere im Umfeld von 𝔞 und 𝔟, als Zeichen für eine beliebige Kardinalität.

Definition (< und ≤ für Kardinalzahlen)

Seien 𝔞, 𝔟 Kardinalzahlen, und seien A, B Mengen mit |A| = 𝔞, |B| = 𝔟.

Wir definieren:

𝔞 ≤ 𝔟 falls  |A| ≤ |B|,
𝔞 < 𝔟 falls  |A| < |B|.