Allgemeine Summen und Produkte

 Der Leser kann den „technischen Rest“ dieses Kapitels gefahrlos überspringen. Höhepunkte des Folgenden sind vielleicht die Ungleichung von König-Zermelo und der Multiplikationssatz. Wir diskutieren zudem einige Fragen, die man zur Arithmetik mit Kardinalzahlen stellen kann, und motivieren damit die allgemeine Theorie geordneter Mengen des zweiten Abschnitts. Das Folgende erscheint dort noch einmal in einem sehr milden Licht, das der Anschauung und den Photographien des Gedächtnisses sehr entgegenkommt.

 Die richtigen Begriffe für bestimmte Probleme zu entwickeln und zu verwenden hat Vorrang. Daneben steht aber ein gewisses puristisches Interesse, die Kardinalzahlarithmetik zunächst ohne den Wohlordnungsbegriff zu entwickeln. Wie und dass dies geht, erscheint nicht uninteressant. Der Leser hat dann zudem die Möglichkeit, die beiden Methoden einander gegenüberzustellen.

 Kardinalzahlen lassen sich nicht nur in Paaren oder endlich oft, sondern in beliebiger Menge sinnvoll addieren und multiplizieren. Für die Multiplikation brauchen wir zunächst einen allgemeinen Produktbegriff.

Definition (allgemeines Kreuzprodukt)

Sei I eine Menge, und seien Ai Mengen für i  ∈  I. Dann ist ⨉i  ∈  I Ai, das allgemeine Produkt der Mengen Ai, i  ∈  I, definiert durch:

i  ∈  I Ai  =  { f  |  f : I  ⋃i  ∈  I Ai, f (i)  ∈  Ai für alle i  ∈  I }.

 Das Produkt ist also die Menge der Transversalfunktionen f, die auf der Indexmenge I definiert sind und an jeder Stelle i  ∈  I einen Wert in Ai annehmen. Wir können A0 × A1 zumeist gefahrlos mit ⨉i  ∈  { 0, 1 } Ai identifizieren, obwohl streng genommen A0 × A1 eine Menge von geordneten Paaren (a0, a1) ist, ⨉i  ∈  { 0, 1 } Ai dagegen eine Menge von Funktionen der Form { (0, a0), (1, a1) }.

 Will man als „warm-up“ zeigen, dass das Produkt unendlich vieler nichtleerer Mengen immer nichtleer ist, so wird man bei der Konstruktion einer Transversalfunktion feststellen, dass eine (triviale) Definition der Form „ein …“ gebraucht wird. (Generell gilt, dass in der Kardinalzahlarithmetik abstrakte Auswahlgeneratoren fast überall am Werk sind.) Es stellt sich dann − nach diesem ersten Resultat über die Existenz einer Transversalfunktion − der Intuition entsprechend heraus, dass es für unendliche Systeme aus Ai’s mit mehr als einem Element massenweise Transversalfunktionen gibt. Vgl. hierzu die Übung unten.

Definition (Summe und Produkt von Kardinalzahlen)

Sei I eine Menge, und seien 𝔞i Kardinalzahlen für i  ∈  I. Weiter seien Ai Mengen für i  ∈  I mit |Ai| = 𝔞i. Wir definieren die Summe i  ∈  I 𝔞i und das Produkt i  ∈  I 𝔞i der Kardinalzahlen 𝔞i, i  ∈  I, wie folgt:

i  ∈  I 𝔞i =  |⋃i  ∈  I Ai × { i } |,
i  ∈  I 𝔞i =  | ⨉i  ∈  I Ai |.

 Die Summe ist also allgemein definiert über die Kardinalität einer disjunkten Vereinigung, und das Produkt über die Menge der Transversalfunktionen, die durch die indizierten Mengen laufen.

 Es ist klar, dass diese allgemeinen Summen- und Produktdefinitionen für endlich viele Summanden und Faktoren mit den alten übereinstimmen. So gilt zum Beispiel 𝔞0 · 𝔞1 · 𝔞2 = i  ∈  { 0, 1, 2 } 𝔞i.

Übung

Seien I, J Mengen, und seien 𝔞i, 𝔟j Kardinalzahlen für i  ∈  I bzw. j  ∈  J. Dann gilt:

(i)

i  ∈  I 𝔞i  ≠  0  gdw𝔞i ≠ 0 für alle i  ∈  I,

(ii)

i  ∈  I 𝔞i  ≠  0  gdw𝔞i ≠ 0 für ein i  ∈  I,

(iii)

i  ∈  I 𝔞i  ≤  i  ∈  I 𝔞ifalls𝔞i ≥ 2 für alle i  ∈  I,

(iv)

i  ∈  I 𝔞i  ≤  j  ∈  J 𝔟jfalls  ein injektives f : I  J existiert mit 𝔞i ≤ 𝔟f (i) für alle i  ∈  I,

(v)

i  ∈  I 𝔞i  ≤  j  ∈  J 𝔟j,  falls𝔟j ≠ 0 für alle j  ∈  J, und ein injektives f : I  J existiert mit 𝔞i ≤ 𝔟f (i) für alle i  ∈  I.

 Es folgt, dass i  ∈  I 𝔞i = i  ∈  I 𝔞f (i) für alle Bijektionen f : I  I gilt, und ein ebenso allgemeines Kommutativgesetz gilt für die Multiplikation. Nach Definition haben wir i  ∈  I 𝔞i = 1 für I = ∅.

 Es gelten weiter viele andere aus der endlichen Arithmetik bekannte Rechenregeln:

Übung

Sei I eine Menge, und seien 𝔞i Kardinalzahlen für i  ∈  I.

(i)

i  ∈  I 𝔞i𝔟  =  (i  ∈  I 𝔞i)𝔟 für alle Kardinalzahlen 𝔟,

(ii)

i  ∈  I 𝔞i  =  X  ∈  Z i  ∈  X 𝔞i  und

i  ∈  I 𝔞i  =  X  ∈  Z i  ∈  X 𝔞i

  für jede Zerlegung Z von I in paarweise disjunkte Mengen.

 Für die Unersättlichen seien schließlich auch noch die Distributivgesetze in ihrer allgemeinsten Form notiert:

Übung (allgemeine Distributivgesetze für Mengen und Kardinalzahlen)

Sei K eine Menge, und seien Ik Mengen für k  ∈  K.

Weiter seien Ak, i Mengen für i  ∈  Ik, k  ∈  K, und es sei 𝔞k, i = |Ak, i| für i  ∈  Ik, k  ∈  K. Dann gilt:

(i)k  ∈  K i  ∈  Ik Ak, i =  ⋃f  ∈  ⨉k  ∈  K Ik k  ∈  K Ak, f (k),
(ii)k  ∈  K i  ∈  Ik 𝔞k, i =  f  ∈  ⨉k  ∈  K Ik k  ∈  K 𝔞k, f (k),
(iii)k  ∈  K i  ∈  Ik Ak, i =  ⋂f  ∈  ⨉k  ∈  K Ik k  ∈  K Ak, f (k),
(iv)k  ∈  K i  ∈  Ik Ak, i =  ⋃f  ∈  ⨉k  ∈  K Ik k  ∈  K Ak, f (k),
(v)k  ∈  K i  ∈  Ik Ak, i =  ⋂f  ∈  ⨉k  ∈  K Ik k  ∈  K Ak,f (k).

 Das sieht ein bisschen abschreckend aus, und deswegen ist vielleicht ein Gedankenexperiment für die ersten beiden Gleichungen vertrauenerweckend und hilfreich: Jedes k  ∈  K ist ein Land, Ik sind die Städte im Land k, Ak, i sind die Einwohner der Stadt i im Land k. Für die Produktbildung betrachten wir alle möglichen Menschenketten (mit Kerzen, wenn Sie wollen), bei denen jedes Land genau einen Bewohner aus irgendeiner seiner Städte beiträgt. All diese Ketten können wir gruppieren nach Ketten f aus Städten, bei denen jedes Land k eine Stadt f (k) beiträgt, was zur rechten Summe führt. Das Distributivgesetz (i) für Mengen stimmt auch im nichtdisjunkten Fall, bei dem jeder Bewohner Wohnsitze in mehreren Städten haben kann.

 Wir verwenden zuweilen folgende suggestive Schreibweisen: i  ∈  I 𝔟 ist nichts als i  ∈  I 𝔞i mit 𝔞i = 𝔟 für alle i  ∈  I. Damit ist zum Beispiel i  ∈  I 1 definiert. Weiter ist für eine Menge 𝔄 von Kardinalzahlen 𝔞  ∈  𝔄 𝔞 oder auch nur  𝔄 einfach eine bequeme Schreibweise für i  ∈  𝔄 𝔟i mit 𝔟i = i für alle i  ∈  𝔄. Analoges gilt für das Kreuzprodukt und das Mengenprodukt; so ist etwa

⨉ A  =  ⨉i  ∈  A i  =  { f | f : A  ⋃ A, f (a)  ∈  a für alle a  ∈  A }.

In der Literatur wird das große griechische Pi oft auch für das Mengenprodukt verwendet; weiter findet man bei Zermelo und Hausdorff auch 𝔓 für  bzw. ⨉.

 Die Idee, dass Multiplikation iterierte Summation, und Exponentiation iterierte Multiplikation ist, behandelt die folgende Übung.

Übung

Sei A eine Menge, und sei 𝔞 = |A|. Dann gilt:

(i)

𝔞  =  i  ∈  A 1,

(ii)

𝔟 · 𝔞  =  i  ∈  A 𝔟  für alle Kardinalzahlen 𝔟,

(iii)

2𝔞  =  i  ∈  A 2,  und allgemeiner

(iv)

𝔟𝔞  =  i  ∈  A 𝔟  für alle Kardinalzahlen 𝔟.

 Ist J ⊆ I unendlich, 𝔞i ≥ 2 für alle i  ∈  J, 𝔞i ≥ 1 für alle i  ∈  I, so ist nach den beiden Übungen

i  ∈  I 𝔞i  ≥  i  ∈  J 2  ≥  i  ∈   2  =  20.

Alle nichttrivialen „echt“ unendlichen Produkte haben also mindestens die Mächtigkeit der reellen Zahlen. Es gibt also i. A. sehr viele Transversalfunktionen. Andererseits gilt i  ∈  I 𝔞i ≤ 𝔟|I|, falls 𝔞i ≤ 𝔟 für alle i  ∈  I gilt.

 Nach dieser Seelandschaft mit Frakturbuchstaben kommen wir nun endlich zu einem interessanten Satz.