Unendliche Mengen
Unendliche Mengen bilden das Zentrum der Mengenlehre, und sie werden dort als „fertige Gesamtheiten“ angesehen.
Hausdorff (1914):
„Eine Menge ist eine Zusammenfassung von Dingen zu einem Ganzen, d. h. zu einem neuen Ding. Man wird dies allerdings schwerlich als Definition, sondern nur als anschauliche Demonstration des Mengenbegriffs gelten lassen, die auf einfache Beispiele verweist: wie etwa die Menge der Einwohner einer Stadt, die Menge der Wasserstoffatome der Sonne. Diese beiden Mengen sind endlich, sie bestehen aus einer endlichen, die zweite freilich aus einer ungeheuer großen Anzahl von Gegenständen. Es ist das Verdienst Georg Cantors, auch unendliche, d. h. nicht endliche Mengen in den Kreis der Betrachtung gezogen und damit, über populäre Vorurteile und philosophische Machtansprüche hinwegschreitend, eine neue Wissenschaft, die Mengenlehre, begründet zu haben; denn eine bloße Theorie der endlichen Mengen wäre ja nichts weiter als Arithmetik und Kombinatorik. Die Menge der natürlichen Zahlen, die Menge der Punkte des Raumes sind die nächstliegenden Beispiele unendlicher Mengen … “
Über die Existenzberechtigung „fertiger“ unendlicher Objekte gab es im 19. Jahrhundert eine zuweilen polemische und überhitzte Diskussion. Man unterscheidet hier zwei Konzepte: „aktual unendlich“ und „potentiell unendlich“. Das folgende Beispiel zweier Aussagen über die natürlichen Zahlen erläutert diese beiden Begriffe vielleicht am besten: „Die Menge der natürlichen Zahlen existiert als ein mathematisches Objekt“ (aktual unendlich) bzw. „Es gibt zwar keine größte natürliche Zahl, aber eine fertige Gesamtheit der natürlichen Zahlen existiert nicht“ (potentiell unendlich).
Cantor hat mehrmals betont, dass das potentiell Unendliche das aktual Unendliche (oder Transfinite) voraussetzt. Lesenswert ist hierzu die folgende Fußnote aus dem philosophischen Aufsatz „Mitteilungen zur Lehre vom Transfiniten“ aus dem Jahre 1887, eine Polemik gegen Johann Friedrich Herbart (1776 − 1841):
Georg Cantor (1887):
„Nach Herbart … soll der Begriff des Unendlichen ‚auf einer wandelbaren Grenze, welche in jedem Augenblick weiter fortgeschoben werden kann, bzw. muss‘ beruhen … Ist es den Herren gänzlich aus der Erinnerung gekommen, dass, von den Reisen abgesehen, die in der Phantasie oder im Traume ausgeführt zu werden pflegen, dass, sage ich, zum sicheren Wandeln oder Wandern fester Grund und Boden sowie ein geebneter Weg unbedingt erforderlich sind, ein Weg, der nirgends abbricht, sondern überall, wohin die Reise führt, gangbar sein und bleiben muss? … Die weite Reise, welche Herbart seiner ‚wandelbaren Grenze‘ vorschreibt, ist eingestandenermaßen nicht auf einen endlichen Weg beschränkt; so muss denn ihr Weg ein unendlicher, und zwar, weil er seinerseits nichts Wandelndes, sondern überall fest ist, ein aktualunendlicher Weg sein. Es fordert also jedes potentiale Unendliche (die wandelnde Grenze) ein Transfinitum (den sicheren Weg zum Wandeln) und kann ohne letzteres nicht gedacht werden… Da wir uns aber durch unsere Arbeiten der breiten Heerstraße des Transfiniten versichert, sie wohlfundiert und sorgsam gepflastert haben, so öffnen wir sie dem Verkehr und stellen sie als eiserne Grundlage, nutzbar allen Freunden des potentialen Unendlichen, im besondern aber der wanderlustigen Herbartschen ‚Grenze‘ bereitwillig zur Verfügung; gern und ruhig überlassen wir die Rastlose der Eintönigkeit ihres durchaus nicht beneidenswerten Geschicks; wandle sie nur immer weiter, es wird ihr von nun an nie mehr der Boden unter den Füßen schwinden. Glück auf die Reise!“
Heute hat sich das aktual unendliche Konzept in der Mathematik erfolgreich durchgesetzt. Die Gefahr, dass der Begriff einer fertigen unendlichen Gesamtheit letztendlich widersprüchlich ist, besteht zwar weiterhin, und ein kritisches Bewusstsein ist sicher angebracht, zumal in der Natur die Endlichkeit − entgegen allem Anschein − vorzuherrschen scheint (vgl. auch die Diskussion und das Hilbert-Zitat im Kapitel 6 über unendliche Mengen). Andererseits wird nun seit fast hundert Jahren intensiv und erfolgreich in den meisten Teilgebieten der Mathematik mit unendlichen Objekten gearbeitet, und die Grundlagenforschung ist, im Gegensatz zur Situation im 19. und frühen 20. Jahrhundert, erwachsen geworden. Mit einem einfachen Widerspruch ist nicht zu rechnen, und das aus dem Konzept der aktual unendlichen Mengen heraus bewiesene Resultat „eine unendliche Menge existiert nicht“ oder „die Menge der reellen Zahlen existiert nicht“ wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Katastrophe, sondern vielmehr eine der tiefsten Erkenntnisse der Mathematik und auch des menschlichen Verstandes.
Gegen eine solche Götterdämmerung und die Widersprüchlichkeit der Theorie aktual unendlicher Mengen sprechen viele Argumente. Nicht zuletzt sind die Resultate der Mengenlehre von einer derart ergreifenden Schönheit, dass ein Zusammenbrechen des Gebäudes zusammen mit der Wahrung des Vertrauens, dass uns Natur und Verstand nicht an der Nase herum führen, schwer vorstellbar ist.
Die philosophische Frage nach der Unendlichkeit bleibt aber bestehen. Allerdings scheint es, dass sie auf einem gewissen Niveau nur auf dem Boden der mengentheoretischen Resultate diskutiert werden kann, und sich in Vagheiten verliert, wenn sie sich zu weit davon entfernt. Sicher der beste jüngere Beitrag zur Unendlichkeit ist das durch die mengentheoretische Forschung errichtete Gebäude der großen Kardinalzahlaxiome, dessen Bedeutung für die Mathematik noch nicht abzusehen ist. Wir werden die ersten Stockwerke im zweiten Abschnitt erkunden.
Stellvertretend für die andere Seite sei Carl Friedrich Gauß (1777 − 1855) zitiert mit seinem Verdikt des aktual Unendlichen, das, so ernst es aus solchem Munde zu nehmen ist, doch zu jenen „Vorurteilen und Machtansprüchen“ gehört hat, die Cantor das Leben schwer gemacht haben:
„So protestiere ich zuvörderst gegen den Gebrauch einer unendlichen Größe als einer vollendeten, welches in der Mathematik niemals erlaubt ist. Das Unendliche ist nur eine façon de parler [Sprechweise], indem man eigentlich von Grenzen spricht, denen gewisse Verhältnisse so nahe kommen als man will, während anderen ohne Einschränkung zu wachsen gestattet ist.“
(Gauß an Heinrich Schumacher (1780 − 1850), 12. Juli 1831)
Diese Briefstelle kann man − allerdings nur mit viel Wohlwollen − auch als berechtigte Kritik daran lesen, mit den damals unzureichend definierten infinitesimalen Größen so zu rechnen, als wären sie wohldefinierte Objekte.
Zu „potentiell unendlich“ und „aktual unendlich“, und zur Genese der systematischen Untersuchung aktual unendlicher Mengen durch Georg Cantor schreibt Abraham Fraenkel (1891 − 1965) dann aus relativ großer zeitlicher Distanz:
Abraham Fraenkel (1959):
„In der ‚klassischen‘ Mathematik des 19. Jahrhunderts tritt das Unendliche im allgemeinen in ‚potentieller‘ Form auf. Mittels dieses potentiellen Unendlichkeitsbegriffs haben A. L. Cauchy und seine Nachfolger in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Infinitesimalrechnung streng begründet, dann K. Weierstraß, G. Cantor und H. Méray in der zweiten Hälfte den Zahlbegriff, insbesondere die irrationalen Zahlen, und auf dieser Grundlage die Funktionentheorie aufgebaut. Es wird genügen ein ganz einfaches Beispiel zu geben: die Aussage lim n → ∞ 1/n = 0 (gelesen: der Limes (Grenzwert) von 1/n, wenn n nach Unendlich strebt, ist Null (oder auch unendlichklein)) ist nichts als eine symbolische Verkürzung der Behauptung: der Quotient 1/n, wo n eine natürliche Zahl bedeutet, kann mit beliebiger Genauigkeit an Null angenähert werden dadurch, dass n genügend groß gewählt wird. Offensichtlich ist in dieser Behauptung von Unendlichgroßem oder -kleinem nicht die Rede …
Ungeachtet gewisser tastender Ansätze einiger Mathematiker in den 70er und 80er Jahren, wie H. Hankel, A. Harnack, P. du Bois Reymond, ist es erst Georg Cantor (1845 − 1918), der Schöpfer der Mengenlehre, gewesen, der das aktuale Unendlich sorgfältig begründet, systematisch in Mathematik und Philosophie eingeführt und zur Grundlage einer eigenen Disziplin, eben der Mengenlehre, gemacht hat, die seit der Jahrhundertwende siegreich fast alle mathematischen Disziplinen infiltriert und weitgehend umgestaltet hat. Indes ist die Schöpfung der Lehre vom aktualen Unendlich nicht etwa zielbewusst vom Anfang an beabsichtigt gewesen. Seit 1870 ging Cantor, der zeitlebens in Halle lehrte, von konkreten mathematischen Problemen der Theorie der reellen Funktionen aus, bei denen es auf die Unterscheidung endlich- oder unendlichvieler ‚Ausnahmepunkte‘ ankam, und rang sich nur allmählich, über eigene Hemmungen hinweg und dem heftigen Widerstand seiner mathematischen Zeitgenossen zuwider, zu einer allgemeinen revolutionären Begriffsbildung durch …“
Mit dem Begriff „Mengenlehre“ ist oft zweierlei gemeint: Zum einen die Sprache der Mengenlehre samt ihrem aktual unendlichen Konzept und den elementaren Begriffen und Operationen, die sie der Mathematik als Grundwortschatz zur Verfügung stellt, und zum anderen die abstrakte mathematische Theorie, die die Struktur des weiten mengentheoretischen Universums zu ergründen sucht. Die Sprache der Mengenlehre lag Ende des 19. Jahrhunderts sicher in der Luft, und wurde vielerorts geschmiedet, etwa bei Richard Dedekind. Die Theorie ist Werk von Georg Cantor alleine, und trägt auch heute noch seine Handschrift. Darüber hinaus war er in der Formung der Sprache − als natürliche Folge der Herausbildung seiner Theorie − der begabteste Feinschmied. Die „Infiltrierung und Umgestaltung“ aller mathematischer Disziplinen, von der Fraenkel spricht, bezieht sich auf die Sprache der Mengenlehre und nicht auf die Mengenlehre als mathematische Theorie. Man kann auch nach Cantor noch sehr gut Mathematik betreiben, ohne viel von höheren Mächtigkeiten und ohne irgendetwas von Wohlordnungen zu wissen. Mit unendlichen Objekten haben die meisten Mathematiker dagegen tagtäglich zu tun. In diesem Buch bezieht sich der Ausdruck „Mengenlehre“ zumeist auf die mathematische Theorie, wobei die Theorie in offensichtlicher Weise ebenfalls von der Sprache der Mengenlehre Gebrauch macht.
Nach dieser Beschreibung der Intuition und ihrer formenden Ausgestaltung in einen extensionalen, iterativen und freien Mengenbegriff, zusammen mit einigen historischen und philosophischen Bemerkungen, die die Komplexität der zugehörigen Fragen vielleicht erahnen lassen, werden wir nun die ersten Erkundungen im Reich der mathematischen Mengen unternehmen. Zu Anfang einer mathematischen Theorie gibt es immer viele Definitionen. Aber wir müssen eine Grundsprache und in ihr eine gewisse Geläufigkeit entwickeln, um über Mengen unangestrengt reden zu können. Und neue Worte helfen ja immer auch, sehen zu lernen, was es alles gibt.