Einfache Mengenbildungen
Wir bezeichnen Mengen mit lateinischen, griechischen, Fraktur-, Skriptur-, usw. Buchstaben (z. B. a, b, N, M, γ, Γ, 𝔞, 𝔄, 𝒜, ℳ, …). Welche Mengen diese Buchstaben bezeichnen, ist abhängig vom Kontext. Für bestimmte Mengen, die häufig auftauchen, gibt es feste, kontextunabhängige Zeichen, wie etwa das schlanke ℕ für die Menge der natürlichen Zahlen. (Der Leser findet verschiedene Alphabete mit den Namen der Buchstaben im Notationsteil des Buches.)
Viele von diesen variablen Bezeichnungen suggerieren einen bestimmten Bereich ihrer Bedeutung: Die Variablen n, m, k werden zumeist für natürliche Zahlen verwendet; ist von reellen Zahlen die Rede, so sind die Zeichen x, y, z erste Wahl; weiter ist A ein strukturell komplizierteres Objekt als a, und 𝔄 oder 𝒜 ist noch komplizierter als A. (Warnung: In der Mengenlehre bedeuten häufig auch kleine Buchstaben reichhaltige Mengen.)
Das ständige Wiederholen gleicher Zeichen in ähnlichen Kontexten hat eine erstaunliche − und erwünschte ! − psychologische Wirkung: Man vergleiche: „seien n ∈ ℕ und x1, … , xn ∈ ℝ“ mit dem formal gleichwertigen „seien x ∈ ℕ und n1, … , nx ∈ ℝ“. Irgendwann sind aber im Kopf alle Zeichen belegt, und somit sind Überschneidungen nicht zu vermeiden.
Den Ausdruck „a ∈ b“ lesen wir als:
„a ist Element von b“, kurz „a Element b“, oder auch „a in b“.
Für „nicht a ∈ b“ oder scholastischer „non (a ∈ b)“ schreiben wir auch „a ∉ b“. Wir vereinbaren zudem, dass a ∈ b für alle a immer falsch und a ∉ b für alle a immer richtig ist, falls b keine Menge ist.
Wir können jede konkrete Liste mathematischer Objekte a1, …, an zu einer Menge zusammenfassen. Zur Bezeichnung verwenden wir die geschweiften Mengenklammern „ { “ und „ } “:
Definition (direkte Angabe der Elemente; Einermengen, Paarmengen)
Seien n ∈ ℕ, n ≥ 1 und a1, … , an Objekte. Wir setzen
{ a1, … , an } = „die Menge, die genau a1, … , an als Elemente enthält“.
Speziell heißen für Objekte a, b die Menge { a } die Einermenge von a, und { a, b } die (ungeordnete) Paarmenge von a, b.
Die Verwendung von geschweiften Klammern für die Notation von Mengen geht auf Georg Cantor und das Jahr 1895 zurück; er schrieb allerdings Mengen M in der heute irritierenden Form M = { m }, also M als Zusammenfassung von (vielen) Objekten m. Zuvor (ab 1874) verwendete Cantor auch Notationen der Form (m), etwa (ν) für die natürlichen Zahlen. Die Schreibweise der Definition oben hat dann Ernst Zermelo (1871 − 1953) eingeführt:
Zermelo (1908):
„Die Menge, welche nur die Elemente a, b, c, …, r enthält, wird zur Abkürzung vielfach mit { a, b, c, …, r } bezeichnet werden.“
Nach Definition gilt für alle x:
x ∈ { a1, … , an } gdw x = ai für ein i ∈ ℕ mit 1 ≤ i ≤ n.
Die Abkürzung „gdw“ steht für „genau dann, wenn“, und meint dasselbe wie das schwerfällige „dann und nur dann“. Ein Ausdruck der Form „A gdw B“ ist logisch gleichwertig mit „aus A folgt B, und aus B folgt A“.
Für die Bildung der Paarmenge ist a ≠ b nicht vorausgesetzt! Nach dem Extensionalitätsprinzip gilt:
{ a } = { a, a } = { a, a, … , a } , { a, b } = { b, a } ,
{ a, b } = { a } gdw a = b.
Allgemein können wir den folgenden nicht besonders spektakulären Sachverhalt konstatieren:
Übung
Seien n, m ∈ ℕ und a1, …, an, b1, …, bm Objekte mit den Eigenschaften:
(α) | Für alle 1 ≤ i ≤ n existiert ein 1 ≤ j ≤ m mit ai = bj. |
(β) | Für alle 1 ≤ j ≤ m existiert ein 1 ≤ i ≤ n mit bj = ai. |
Dann gilt { a1, … , an } = { b1, … , bm }.
Es genügt, wenn der Leser verinnerlicht, dass eine Menge M = { a, b } nicht notwendig zwei Elemente haben muss. Es kann a = b gelten, und dann ist M einelementig.
Weiter definieren wir:
Definition (leere Menge)
Wir setzen
∅ = „die Menge, die kein Element enthält“.
∅ heißt die leere Menge oder die Nullmenge.
Wir verwenden auch „{ }“ als Bezeichnung für die leere Menge, in Erweiterung der Schreibweise { a1, … , an }.
Cantor, Hausdorff und Zermelo haben noch das Symbol 0 für die leere Menge verwendet. André Weil (1906 − 1998) hat dann das Ø-Zeichen aus den nordischen Sprachen eingeführt, und die Mathematiker mit ihrer Vorliebe für alle möglichen Alphabete haben dieses Zeichen dann in ihren festen Vorrat übernommen.
Die leere Menge kann Element einer anderen Menge sein. M = { ∅ } = { { } } hat ein Element, nämlich die leere Menge. M = { ∅, { ∅ } } hat zwei Elemente: ∅ und { ∅ } sind verschieden, wie man mit dem Extensionalitätsprinzip sofort sieht.
Hausdorff (1914):
„Außer den Mengen, die Elemente haben, lassen wir auch eine Menge 0, die Nullmenge, zu, die kein Element hat; die Gleichung A = 0 bedeutet also, dass auch die Menge A kein Element hat, verschwindet, leer ist. Auch hierzu ist die analoge Bemerkung zu machen wie im allgemeinen Fall: die Gleichung A = 0 kann eine bedeutungsvolle Aussage sein, wenn nämlich die Definition der Menge A ihr Verschwinden nicht unmittelbar erkennen lässt. Der Fermatsche Satz behauptet: die Menge der natürlichen Zahlen n > 2, für welche die Gleichung xn + yn = zn in natürlichen Zahlen x, y, z lösbar ist, ist die Nullmenge.“
Hier wird wieder die Vorstellung über die Welt der Mengen ausgedrückt: Wir können Mengen definieren und mit ihnen operieren, ohne genau über ihren Umfang, ihre Extension, Bescheid zu wissen. Die Menge A aller n ∈ ℕ, n > 2, für die xn + yn = zn in natürlichen Zahlen x, y, z lösbar ist, ist wohldefiniert. A existiert. (Ende des 20. Jahrhunderts hat Andrew Wiles das Fermatsche Problem gelöst: Es gilt A = ∅.)
Wir kommen nun allgemeiner zu Mengenbildungen durch definierende Eigenschaften.