Dedekinds Definition der Unendlichkeit

Definition (Unendlichkeit nach Dedekind)

Sei M eine Menge. M heißt unendlich, falls es eine echte Teilmenge N von M gibt, die sich bijektiv auf M abbilden lässt, d. h. es gibt ein N ⊂ M mit |N| = |M|.

Eine Menge heißt endlich, falls sie nicht unendlich ist.

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 Anders formuliert: Eine Menge M ist unendlich, falls es eine Injektion f : M  M gibt, die mindestens einen Wert auslässt, d. h. rng(f) ≠ M.

 Nach obigem Beispiel ist  eine unendliche Menge − wie es sein soll.

Allgemeiner gilt:

Übung

Sei A ⊆  unbeschränkt in , d. h. für alle n  ∈   gibt es ein m  ∈  A mit n ≤ m.

Dann ist A unendlich.

[Wir definieren g : A  A durch g(n) = „das kleinste m  ∈  A mit n < m“.]

Dedekind (1888):

„Ein System [Menge] S heißt unendlich, wenn es einem echten Teile seiner selbst ähnlich [gleichmächtig] ist; im entgegengesetzten Falle heißt S ein endliches System … 

[Fußnote zu dieser Definition:] … In dieser Form habe ich die Definition des Unendlichen, welche den Kern meiner ganzen Untersuchung bildet, im September 1882 Herrn G. Cantor und schon mehrere Jahre früher auch den Herren Schwarz und Weber mitgeteilt. Alle anderen mir bekannten Versuche, das Unendliche vom Endlichen zu unterscheiden, scheinen mir so wenig gelungen zu sein, dass ich auf eine Kritik derselben verzichten zu dürfen glaube.“

 Der Leser vergleiche hierzu Bolzanos „Paradoxien des Unendlichen“ (1851), § 21f.

 Wir werden unten eine Reihe von „gelungenen“ äquivalenten Definitionen von unendlich und endlich kennenlernen, wobei die ansprechendste unter ihnen die natürlichen Zahlen verwendet. Dedekinds Definition bleibt in ihrem Purismus ungeschlagen , auch wenn sich im axiomatischen Aufbau der Mengenlehre eine Definition über die natürlichen Zahlen als einfacher erweist, im Sinne des geringeren Gewichts der die Definition inhaltlich tragenden Axiome.

 Cantor hat, obwohl er mit dem Phänomen hinter der Dedekindschen Definition und mit ihr selbst vertraut war, viel kompliziertere, aber dafür auch sehr interessante Merkmale der Endlichkeit an die Spitze gestellt. So schreibt er in seiner philosophischen Arbeit von 1887:

Cantor (1887):

„Unter einer endlichen [nichtleeren] Menge verstehen wir eine solche M, welche aus einem ursprünglichen Element durch sukzessive Hinzufügung neuer Elemente derartig hervorgeht, dass auch rückwärts aus M durch sukzessive Entfernung der Elemente in umgekehrter Ordnung das ursprüngliche Element gewonnen werden kann…

 Als durchaus wesentliches Merkmal endlicher Mengen muss es angesehen werden, dass eine solche keinem ihrer [echten] Bestandteile äquivalent ist. Denn eine aktual unendliche Menge ist immer so beschaffen, dass auf mehrfache Weise ein Bestandteil von ihr bezeichnet werden kann, der ihr äquivalent ist.“

 Cantors endliche Mengen sind also den Stapeln der Informatik ähnlich, die durch schrittweises „push“ an Höhe gewinnen, aber auch durch schrittweises „pop“ wieder reduziert werden können. Ein Stapel unendlicher Höhe bestehend aus allen natürlichen Zahlen n  ∈   in ihrer natürlichen Ordnung ist ideell vorstellbar. Man kann ihn sich durch sukzessives „push“ aufgebaut denken, dagegen kann er durch „pop“ nicht mehr von oben abgebaut werden, weil er kein oberstes Objekt mehr besitzt.

 In der Vorstellung Cantors sind Mengen zwar extensional bestimmt, aber dennoch oft mit einer inneren Ordnung versehen. Konzeptionell wie intuitiv sind heute Mengen nackt und ungeordnet. Auch Ordnungen auf ihnen, wie etwa <, sind, für sich selbst genommen, ungeordnete Mengen.

 Dedekind hat aus seiner Definition die „Unendlichkeit der Gedankenwelt“ abgeleitet (vgl. das Zitat auf dem Vorblatt des Buches):

Hessenberg (1906):

„Einer der interessantesten Versuche, die Existenz transfiniter Mengen zu beweisen, ist der von Dedekind unternommene. Es sei a irgend ein Gegenstand des Denkens, so kann ich das Urteil fällen: a ist ein Gegenstand meines Denkens. Dieses Urteil φ(a) ist selbst ein Gegenstand des Denkens. Die Zuordnung φ zwischen a und φ(a) ist umkehrbar eindeutig [injektiv] und bildet die Menge aller Gedankendinge auf einen echten Teil ihrer selbst ab, da nicht jeder Gegenstand des Denkens die Form eines Urteils, daher a fortiori nicht die Form des speziellen Urteils φ(a) hat. Demnach ist die Menge aller Gedankendinge transfinit.“

 Die Idee ist hier gerade, die natürlichen Zahlen nicht zu verwenden. Sonst könnte man analog argumentieren: Die Zuordnung φ, die n  ∈   auf n + 1 abbildet, ist injektiv. Natürliche Zahlen kommen erst später, die Unendlichkeit wohnt dem Denken selber inne, und dieses braucht nicht erst das Zählen, um sich dieser Tatsache bewusst zu werden. Mathematisch lässt sich das Argument sicher nicht als Beweis der Existenz unendlicher Mengen auffassen. Philosophisch ist die Idee zweifellos interessant, und kulturgeschichtlich ist der Versuch, die Existenz transfiniter Mengen aus einem iterierten Akt der Selbstreflexion zu beweisen, ein schönstes Beispiel aufklärerischen Denkens. Der Mensch erkennt durch bloße Selbstbeobachtung die unendlichen Möglichkeiten seines Verstandes. Nicht zufällig ist es Hessenberg, der Dedekinds Versuch würdigt: Hessenberg war philosophisch gesehen Neukantianer. (Sein Buch von 1906 erschien zuerst in den „Abhandlungen der Friesschen Schule“.)