Die rationalen Zahlen sind abzählbar

Satz (Abzählbarkeit der rationalen Zahlen)

ist abzählbar.

Beweis

Für q  ∈   seien N(q)  ∈   der Nenner und Z(q)  ∈   der Zähler des gekürzten Bruches |q|, wobei |q| = q für q ≥ 0, |q| = − q für q < 0.

Wir setzen für n  ∈  

An  =  { q  ∈   | N(q) + Z(q) = n }.

Dann ist jedes An abzählbar (sogar endlich), und

 =  ⋃n  ∈   An.

Also ist  abzählbar.

mengenlehre1-AbbID28

 Hinter diesem Beweis steht die folgende „Spiralaufzählung“ des 2-Gitters. Für n  ∈   setzen wir:

A′n  =  { (a, b)  ∈  2 | |a| + |b| = n }

Die Mengen A′n sind Quadrate im 2 mit den Ecken (n, 0), (0, n), (−n, 0), (0, −n). Vom Nullpunkt ausgehend können wir nun die Schnittpunkte dieser Quadrate mit dem 2-Gitter „spiralförmig“ aufzählen. Der Leser kann leicht die ersten Brüche einer solchen Aufzählung ermitteln.

 Viele andere Arten von Aufzählungen von  sind denkbar, etwa Abzählungen nach dem Maximum von Zähler und Nenner eines gekürzten Bruches, was dem um 45 Grad gedrehten Bild oben entsprechen würde. Beschränken wir uns auf rationale Zahlen q mit 0 ≤ q ≤ 1, und ordnen wir bei gleichem Maximum nach aufsteigenden Zählern, so beginnt die Liste wie folgt:

0111121323143415253545165617  …

 In dieser algebraischen Form ist die Abzählbarkeit von  einleuchtend. Überraschender ist sie, wenn man sich  als Teilmenge der Zahlengeraden  vorstellt. Die Punkte von  sind dicht gesät in :

Übung

ist dicht in , d. h. für alle x, y  ∈   mit x < y existiert ein q  ∈   mit x < q < y.

[ Verwenden Sie z. B. Dezimalbruchentwicklungen von x, y, und interpolieren Sie eine Zahl q mit abbrechender Dezimalbruchentwicklung, also ein q  ∈  .]

Hausdorff (1914):

„Die Äquivalenz der Menge der ganzen Zahlen mit der doch viel umfassenderen der rationalen Zahlen gehört mit zu den Tatsachen der Mengenlehre, die bei erster Bekanntschaft den Eindruck des Erstaunlichen, ja Paradoxen hervorrufen: namentlich wenn man das geometrische Bild (die Zuordnung zwischen Zahlen und Punkten der geraden Linie) vor Augen hat und sich einerseits die in endlichen Abständen isoliert liegenden ‚ganzzahligen‘ Punkte, andererseits die über die ganze Linie wie ein Staub von mehr als mikroskopischer Feinheit verteilten ‚rationalen‘ Punkte vergegenwärtigt.“

 Aus der Dichtheit von  in  zu schließen, dass auch  abzählbar ist, ist zwar auf den ersten Blick verführerisch, aber unstatthaft: Zwei geordnete Mengen als gleichgroß zu bezeichnen, wenn zwischen zwei verschiedenen Punkten der einen immer Punkte der anderen liegen, wäre kein guter Größenbegriff, und dieser Begriff hat mit der Existenz von Bijektionen i. A. nichts zu tun. (Der Autor erhält regelmäßig Zuschriften, in denen die Abzählbarkeit von  durch „ ist dicht in “ bewiesen wird. Daher dieser vorbeugende Absatz.)