Einfache Folgerungen

 Der ursprüngliche Beweis von Cantor zeigt sofort:

Korollar (jedes reelle Intervall ist überabzählbar)

Seien x, y  ∈   mit x < y. Dann ist das offene Intervall

] x, y [  =  { z  ∈   | x < z < y } überabzählbar.

Übung

Zeigen Sie die Überabzählbarkeit jedes reellen Intervalls durch eine Modifikation des Diagonalarguments.

 Wir geben noch einen weiteren Beweis mit Hilfe von Translationen.

Weiterer Beweis des Korollars

Für ein A ⊆  und ein z  ∈   definieren wir

A + z  =  { x + z | x  ∈  A }.

A + z heißt die Translation von A um z. Anschaulich wird die Menge A um den Wert z verschoben. Offenbar gilt ] x, y [ + z = ] x + z, y + z [. Weiter gilt |A| = |A + z|, denn f : A  A + z mit f (x) = x + z ist bijektiv.

Sei nun ] x, y [ ein beliebiges Intervall mit x < y, x, y  ∈  . Annahme, ] x, y [ ist abzählbar. Es gilt aber  = ⋃ { ] x, y [ + q | q  ∈   } (! ). Da mit ] x, y [ auch alle ] x, y [ + q abzählbar sind, ist  abzählbare Vereinigung von abzählbaren Mengen. Also ist  abzählbar, Widerspruch!

Stärker gilt:

Satz (Mächtigkeit reeller Intervalle)

Seien a, b  ∈  , a < b. Dann gilt

||  =  |] a, b [|.

Beweis

Sei I = ] -1, 1 [. Es genügt zu zeigen: || = |I|, denn offene Intervalle verschiedener Länge kann man durch einfache Streckung bijektiv aufeinander abbilden:

Sind a, b, c, d  ∈   und a < b, c < d, so ist die Funktion f : ] a, b [  ] c, d [ bijektiv, wobei

f (y)  =  c + (y − a)/(b − a) · (d − c)  für alle y  ∈  ] a, b [.

Wir definieren nun g : I   durch

g(x)=1/x1,falls 0<x<1,0,falls x=0,1/x+1,falls 1<x<0.

Dann ist g : I   bijektiv.

 Es gibt viele konkrete Funktionen, die Intervalle bijektiv auf ganz  abbilden, z. B. ist die Tangensfunktion tan : ] − π/2, π/2 [   bijektiv (und stetig).

 Mit dem Satz von Cantor-Bernstein folgt leicht, dass auch halboffene und abgeschlossene reelle Intervalle, die mehr als einen Punkt enthalten, gleichmächtig zu  sind; denn solche Intervalle enthalten ein offenes Intervall ] x, y [ mit x < y. Einen direkteren Beweis gibt die folgende Übung.

Übung

Sei I = ] 0, 1 [, J = ] 0, 1 ]= { x  ∈   | 0 < x ≤ 1 }. Dann gilt |I| = |J|.

[Sei H = { 1/n | n  ∈  , n ≥ 1 }. Wir betrachten die Funktion

g = { (1/n, 1/(n + 1)) | n ≥ 1 } ∪ id J − H.

H ist zudem der Wertebereich des Orbits von 1 unter g.]

 Gleichmächtig zu  ist weiter auch die Vereinigung von beliebig vielen Intervallen, falls mindestens ein Intervall der Vereinigung nichttrivial ist.

Übung

Es gilt || = | × |.

[Sei I = [ 0, 1 [ = { x  ∈   | 0 ≤ x < 1 }. Es gilt |I| = ||, und f : I ×    mit f(x, n) = n + x ist injektiv.]

 Für r  ∈  , 0 < r, sei Kr die Kreislinie in 2 =  ×  mit Radius r um den Nullpunkt. Für beliebige r, r′  ∈   mit 0 < r < r′ erhält man eine Bijektion zwischen Kr und Kr′, indem man die Punkte der Kreislinien aufeinander abbildet, die auf den gleichen im Nullpunkt beginnenden Halbstrahlen liegen (d. h. die Punkte der Kreislinien mit gleichem Winkel zur x-Achse werden einander zugeordnet). Nach obiger Übung ist also || = |⋃r > 0, r  ∈  𝔸 Kr |, da || = |K1|. Wir werden im nächsten Kapitel zeigen, dass sogar der gesamte 2 gleichmächtig zu  ist!

 Wir schließen hier noch eine Übung an, die zeigt, wie dünn  ×  in  ×  gesät ist. Die schöne Idee, Kreisbögen zu verwenden, stammt von Cantor.

Übung

Seien x, y  ∈  2, x ≠ y. Sei  = 2 − 2. Ein Kreisbogen zwischen x und y ist ein x und y verbindendes Segment eines Kreises im 2; per Konvention rechnen wir hier x und y nicht zu einem Kreisbogen zwischen x und y mit dazu. Zeigen Sie: Es gibt einen Kreisbogen B zwischen x und y mit B ⊆ .

[Es gibt überabzählbar viele paarweise disjunkte Kreisbögen zwischen x und y.

Die Aussage gilt allgemein für  = 2 − A mit A ⊆ 2 abzählbar.]

 Wir können also verschiedene Punkte x und y im 2 durch eine stetige Linie − sogar einen Kreisbogen − derart verbinden, dass die Verbindungslinie an allen Punkten der Menge  ×  vorbeiläuft − obwohl die Menge  ×  dicht in 2 liegt (d. h. für alle x  ∈  2 und alle r > 0 ist 2 ∩ K(x, r) ≠ ∅, wobei K(x, r) ⊆ 2 hier den Vollkreis um x mit Radius r bezeichnet).

Cantor (1882b):

„Was die abzählbaren Punktmengen anbetrifft, so bieten sie eine merkwürdige Erscheinung dar, welche ich im Folgenden zum Ausdruck bringen möchte. Betrachten wir irgendeine Punktmenge (M), welche innerhalb eines n-dimensionalen stetig zusammenhängenden Gebietes A überalldicht verbreitet ist und die Eigenschaft der Abzählbarkeit besitzt, so dass die zu (M) gehörigen Punkte sich in der Reihenform:

M1, M2, …, Mν, …

vorstellen lassen; als Beispiel diene die Menge aller derjenigen Punkte unseres dreidimensionalen Raumes, deren Koordinaten in bezug auf ein orthogonales Koordinatensystem x, y, z alle drei algebraische Zahlenwerte haben. Denkt man sich aus dem Gebiete A die abzählbare Punktmenge (M) entfernt und das alsdann übrig gebliebene Gebiet mit 𝔄 bezeichnet, so besteht der merkwürdige Satz, dass für n ≥ 2 das Gebiet 𝔄 nicht aufhört stetig zusammenhängend zu sein, dass mit anderen Worten je zwei Punkte N und N′ des Gebietes 𝔄 immer verbunden werden können durch eine stetige Linie, welche mit allen ihren Punkten dem Gebiete 𝔄 angehört, so dass auf ihr kein einziger Punkt der Menge (M) liegt.“

 Die Klärung des allgemeinen mathematischen Raumbegriffs mit Konzepten wie „zusammenhängend“, „wegzusammenhängend“, usw., geschah erst Anfang des 20. Jahrhunderts durch die aus der Mengenlehre hervorgehende Topologie. Felix Hausdorff ist hier eine zentrale Figur, er definierte 1914 allgemeine topologische und speziellere metrische Räume. Cantor war an Fragen des mathematischen Raumbegriffs und der Inhaltsmessung von Punktmengen in einem Raum sehr interessiert, und hat nicht nur durch seine allgemeine mengentheoretische Sprache, sondern speziell durch seine Untersuchung von „Punktmannigfaltigkeiten“ die allgemeine Raum- und Maßtheorie initiiert. Wir werden im zweiten Abschnitt Cantors Analyse von Punktmengen im Raum der reellen Zahlen ausführlich behandeln.