Subtraktion einer abzählbaren Menge

 Wir wissen bereits, dass durch Entfernen einer abzählbaren Teilmenge die Überabzählbarkeit einer Menge nicht verändert wird. Wir zeigen nun stärker, dass die Kardinalität einer Menge durch Entfernung abzählbar vieler Elemente nicht verändert wird:

Satz (Subtraktion abzählbarer Mengen)

Sei M eine überabzählbare Menge. Weiter sei A ⊆ M abzählbar. Dann gilt

|M − A|  =  |M|.

Beweis

Wir nehmen zunächst an, dass A abzählbar unendlich ist. Sei f :   A bijektiv, und sei xn = f (n) für n  ∈  . M − A ist eine unendliche Menge (sogar überabzählbar). Sei also B ⊆ M − A eine abzählbar unendliche Teilmenge von M − A. Sei g :   B bijektiv und yn = g(n) für alle n  ∈  . Wir definieren h : M − A  M durch:

h(z)=yn,falls z=y2n,xn,falls z=y2n+1,z,falls zB.

Dann ist h : M − A  M bijektiv, also |M| = |M − A|.

Sei nun A endlich, f : m  A bijektiv für ein m  ∈  , xn = f (n) für n < m. Seien B, g, yn für n  ∈   wie eben definiert. Wir definieren eine Funktion h : M − A  M durch:

h(z)=ynm,falls z=yn,nm,xn,falls z=yn,0n<m,z,falls zB.

Dann ist h : M − A  M bijektiv, also |M| = |M − A|.

Korollar

Es gilt || = | − | = |𝕋|.

 Die reellen Zahlen sind also gleichmächtig zu den irrationalen Zahlen und stärker sogar gleichmächtig zu den transzendenten Zahlen.

Das „Reißverschluss“-Argument des Beweises im Subtraktionssatz stammt von Cantor. In einer Arbeit von 1878 benötigt er die Gleichung |I| = |I − |, wobei I = [ 0, 1 ] ⊆  ist. Nach einem vierseitigen umständlichen Beweis dieses Resultates (der Satz von Cantor-Bernstein stand ihm damals noch nicht zur Verfügung) gibt er schließlich einen zweiten Beweis nach obiger gerade-ungerade-Aufspaltung einer abzählbar unendlichen Teilmenge B von I − . Auf den komplizierten Beweis, der ihn viel Mühe gekostet hatte, wollte er nicht verzichten, „weil die Hilfssätze (F.), (G.), (H.), (J.), welche bei der komplizierten Beweisführung gebraucht werden, an sich von Interesse sind“. Das Interesse an diesen Hilfssätzen hält sich in Grenzen. Das rückblickende Finden einfacher Argumente ist für die Mitwelt meistens ein Glücksfall, für einen Forscher selber bedeutet es oft, dass viel vorangehende Arbeit überflüssig wird. Und es kann schwerfallen, die erste Wegbeschreibung zu einem neuen Resultat einfach in den Papierkorb zu werfen.

 Den Schluss dieses Kapitels bildet Cantors erster Beweis der Überabzählbarkeit der reellen Zahlen, in seinen eigenen Worten vorgetragen.

Georg Cantor über die Überabzählbarkeit des Kontinuums

 „ §. 2.

 Wenn eine nach irgend einem Gesetze gegebene unendliche Reihe von einander verschiedener reeller Zahlgrößen:

(4.)  ω1, ω2, … , ων, … 

vorliegt, so lässt sich in jedem vorgegebenen Intervalle (α … β) eine Zahl η (und folglich unendlich viele solcher Zahlen) bestimmen, welche in der Reihe (4.) nicht vorkommt; dies soll nun bewiesen werden.

 Wir gehen zu dem Ende von dem Intervalle (α … β) aus, welches uns beliebig vorgegeben sei, und es sei α < β; die ersten beiden Zahlen unserer Reihe (4.), welche im Inneren dieses Intervalls (mit Ausschluß der Grenzen) liegen, mögen mit α′, β′ bezeichnet werden, und es sei α′ < β′; ebenso bezeichne man in unserer Reihe die ersten beiden Zahlen, welche im Inneren von (α′ … β′) liegen, mit α″, β″, und es sei α″ < β″, und nach demselben Gesetze bilde man ein folgendes Intervall (α′′′ … β′′′) u. s. w. Hier sind also α′, α″ … der Definition nach bestimmte Zahlen unserer Reihe (4.), deren Indizes im fortwährenden Steigen sich befinden, und das gleiche gilt von den Zahlen β′, β″ …; ferner nehmen die Zahlen α′, α″, … ihrer Größe nach fortwährend zu, die Zahlen β′, β″ nehmen ihrer Größe nach fortwährend ab; von den Intervallen (α … β), (α′ … β′), (α″ … β″), … schließt ein jedes alle auf dasselbe folgenden ein. − Hierbei sind nun zwei Fälle denkbar.

Entweder die Anzahl der so gebildeten Intervalle ist endlich; das letzte von ihnen sei (α(ν) … β(ν)); da im Inneren desselben höchstens eine Zahl der Reihe (4.) liegen kann, so kann eine Zahl η in diesem Intervalle angenommen werden, welche nicht in (4.) enthalten ist, und es ist somit der Satz für diesen Fall bewiesen. −

Oder die Anzahl der gebildeten Intervalle ist unendlich groß; dann haben die Größen α, α′, α″, …, weil sie fortwährend ihrer Größe nach zunehmen ohne ins Unendliche zu wachsen, einen bestimmten Grenzwert α; ein gleiches gilt für die Größen β, β′, β″, …, weil sie fortwährend ihrer Größe nach abnehmen, ihr Grenzwert sei β; ist α = β (ein Fall, der bei dem Inbegriffe (ω) aller reellen algebraischen Zahlen stets eintritt), so überzeugt man sich leicht, wenn man nur auf die Definition der Intervalle zurückblickt, dass die Zahl η = α = β nicht in unserer Reihe enthalten sein kann *); ist aber α < β, so genügt jede Zahl η im Inneren des Intervalles  … β) oder auch an den Grenzen desselben der gestellten Forderung, nicht in der Reihe (4.) enthalten zu sein. −


 *)  Wäre die Zahl η in unserer Reihe enthalten, so hätte man η = ωp, wo p ein bestimmter Index ist; dies ist aber nicht möglich, denn ωp liegt nicht in Innern des Intervalls (α(p) … β(p)), während die Zahl η ihrer Definition nach im Innern dieses Intervalls liegt.“

(Georg Cantor 1874, „Über eine Eigenschaft des Inbegriffes aller reellen algebraischen Zahlen“ )