Mehrdimensionale Kontinua

 Für die natürlichen Zahlen haben wir gezeigt, dass | × | = || gilt. Wir zeigen jetzt das analoge und in diesem Fall kontraintuitive Resultat für .

Cantor (Brief an Dedekind vom 5. 1. 1874):

„Hochgeehrter Herr Professor!

… Was die Fragen anbetrifft, mit denen ich in der letzten Zeit mich beschäftigt habe, so fällt mir ein, dass in diesem Gedankengange auch die folgende sich darbietet:

 Läßt sich eine Fläche (etwa ein Quadrat mit Einschluß der Begrenzung) eindeutig auf eine Linie (etwa eine gerade Strecke mit Einschluß der Endpunkte) eindeutig beziehen, so dass zu jedem Punkte der Fläche ein Punkt der Linie und umgekehrt zu jedem Punkte der Linie ein Punkt der Fläche gehört?

 Mir will es im Augenblick noch scheinen, dass die Beantwortung dieser Fragen, − obgleich man auch hier zum Nein sich so gedrängt sieht, dass man den Beweis dazu fast für überflüssig halten möchte, − große Schwierigkeiten hat. − … “

 Mehr als drei Jahre hat es gedauert, bis Cantor die überraschende Antwort auf das Problem fand. Brieflich teilt Cantor Dedekind am 20. 6. 1877 einen leicht fehlerhaften Beweis von |In| = |I| mit, wobei I = { x  ∈   | 0 ≤ x ≤ 1 } das abgeschlossene reelle Einheitsintervall ist und n ≥ 1 beliebig; sein Argument zeigt lediglich |In| ≤ |I|, was aber, wie Cantor betont, den Kern der Sache betrifft. In „Ein Beitrag zur Mannigfaltigkeitslehre“ (1878) konstruiert Cantor dann eine Bijektion von In nach I unter Verwendung von Kettenbrüchen. Heute ist der Beweis mit Hilfe des Satzes von Cantor-Bernstein oder einem Trick von Julius König (s. u.) einfach zu führen.

Satz (Satz von Cantor über die Mächtigkeit von  × )

Es gilt | × | = ||.

Beweis

Es gilt || ≤ | × |. Betrachte hierzu i :    ×  mit i(x) = (x, 0) für alle x  ∈  . Dann ist i injektiv.

Es bleibt zu zeigen, dass | × | ≤ ||. Sei hierzu g :  ×    bijektiv mit g(0, 0) = 0.

Sei (x, y)  ∈   × . Wir schreiben x und y in kanonischer Dezimaldarstellung:

x  =  c, a0 a1 a2 … ,

y  =  d, b0 b1 b2 … .

mit c, d  ∈  . Wir definieren nun f :  ×    durch „Mischung“ der Nachkommastellen im Reißverschlussverfahren:

f(x, y)  =  g(c, d), a0 b0 a1 b1 a2 b2 … 

Dann ist f(x, y) in kanonischer Darstellung, und damit ist offenbar f injektiv.

(f(0, 0) = 0,000 … ist in kanonischer Darstellung wegen g(0, 0) = 0.)

Übung

Die Abbildung f im obigen Beweis ist nicht surjektiv.

Genauer gilt:  − rng(f) ist überabzählbar.

 Da jedes Intervall ] a, b [, a, b  ∈  , a < b, die Mächtigkeit von  hat, folgt: Jedes reelle Intervall lässt sich bijektiv auf die ganze Ebene 2 abbilden.

 Das Ergebnis | × | = || hat zur Zeit seiner Entdeckung große Irritationen hervorgerufen, auch bei Cantor selbst, der in einem Brief an Dedekind das Französische zu Hilfe ruft: „je le vois, mais je ne crois pas“ [„ich sehe es, aber ich glaube es nicht“].

 Die Gleichung |2| = || erlaubt uns, Teilmengen der Ebene als Teilmengen der Geraden anzusehen − wir wählen ein bijektives f : 2   und setzen B = f″A für A ⊆ 2. Allerdings werden bei diesem Übergang von A zu B wesentliche Strukturen von B zerstört; die Abbildung f ist unstetig, sie schüttelt gewissermaßen den 2 völlig durcheinander, um ihn danach zu linearisieren, und bei diesem Durcheinanderschütteln geht die Dimension 2 der Ebene 2 verloren.

 In der Tat gibt es keine stetigen (s. u.) bijektiven Abbildungen zwischen 2 und , und allgemeiner zwischen verschiedendimensionalen Kontinua. Dieser Satz, den Dedekind unmittelbar nach der brieflichen Mitteilung von |In| = |I| durch Cantor vermutet hatte, wurde erst 1911 durch Luitzen Brouwer (1881 − 1966) vollständig bewiesen. Wir diskutieren am Ende des Kapitels noch eine stetige Surjektion von  nach 2, die allerdings nicht injektiv ist − und nicht sein kann.

 Dass es etwa keine stetige Bijektion f : I2  I mit I = [ 0, 1 ] ⊆  geben kann, lässt sich noch relativ einfach zeigen. Für Leser, die einige Begriffe der Topologie kennen, sei hier der Beweis skizziert: Stetige Funktionen erhalten den Zusammenhang, und I2 ist nach Entfernung eines Punktes x mit 0 < f (x) < 1 zusammenhängend, während I nach Entfernung von f (x) zwei Komponenten hat. Also kann ein stetiges bijektives f : I2  I nicht existieren. (Der Beweis zeigt stärker, dass jedes stetige f : I2  I jeden Wert x  ∈  rng(f) überabzählbar oft annimmt mit Ausnahme von allenfalls zwei Werten.

 Es folgt, dass es dann auch kein stetiges bijektives g : I  I2 gibt, denn eine derartige Funktion g hätte automatisch eine stetige bijektive Umkehrabbildung g−1 : I2  I. (Umkehrungen von stetigen Bijektionen brauchen nicht stetig zu sein. Sei etwa g : [ 0, 2π [  K mit g(α) = (cos(α), sin(α)), oder g irgendeine Aufwicklung eines halboffenen Intervalls zu einer Kreislinie; g−1 ist nicht stetig in g(0). Ist der Definitionsbereich eines stetigen bijektiven g kompakt und der Zielraum Hausdorffsch, so hat g automatisch eine stetige Umkehrabbildung.)

Übung

Für alle natürlichen Zahlen n, m ≥ 1 ist |n| = |m|.

 Alternativ zu einem induktiven Beweis kann man die Idee der Verschmelzung zweier reeller Zahlen zu einer durch „Mischen“ oder „Einfädeln“ der Nachkommastellen verallgemeinern zu einer Verschmelzung von n reellen Zahlen zu einer − und sogar zu einer Verschmelzung von abzählbar vielen reellen Zahlen zu einer, wie wir gleich zeigen werden.

 Bei der Umkehrung dieser Idee − aus einer reellen Zahl zwei zu machen − ist etwas Vorsicht geboten. Aus

z = c, c0 c1 c2 … können wir zwar

x = a, c0 c2 c4 … und y = b, c1 c3 c5 … , wobei hier (a, b) = g−1(c) ist,

herauslösen. x und y sind aber nicht mehr notwendig in kanonischer Darstellung. Sei etwa g(0, 0)  =  0,  g(1, 0)  =  1,

z0  =  1, 0 1 0 1 0 1 … ,

z1  =  0, 9 1 9 1 9 1 … 

Dann ist

x0  =  1, 0 0 0 … ,  y0  =  0, 1 1 1 … ,

x1  =  0, 9 9 9 … ,  y1  =  0, 1 1 1 … 

Also x0 = x1 und y0 = y1. Aber z0 ≠ z1! Also ist diese Teilungsfunktion nicht notwendig injektiv.

 Die folgende Übung zeigt einen Weg, doch direkt eine Bijektion von  nach 2 durch Aufspaltung der Dezimaldarstellung einer reellen Zahl zu erhalten. Es ergibt sich ein Beweis des Satzes, der den Satz von Cantor-Bernstein nicht heranzieht. Die Idee stammt von Julius König, Cantor hat diesen Trick übersehen.

Übung (Trick von Julius König)

Ein Block einer reellen Zahl x = b, a0 a1 a2 … in kanonischer Darstellung ist eine endliche Folge an, an + 1, … , an + m aus Nachkommastellen mit der Eigenschaft:

an − 1 ≠ 0 (falls n > 0),  an = … = an + m − 1 = 0,  an + m ≠ 0.

Beginnt z. B. die Dezimaldarstellung von x mit 1,100130710001 … , so sind 1, 001, 3, 07, 1, 0001 die ersten Blöcke von x.

Konstruieren Sie mit Hilfe von Blöcken eine Bijektion zwischen I und I × I, wobei I = { x  ∈   | 0 < x ≤ 1 }.

[Aufspaltung der Blöcke anstelle der Ziffern.]

 Julius König fand den Trick vor 1900. Die erste dem Autor bekannte Referenz ist [Schoenflies 1900, S. 23], wo es heißt: „… und zweitens denke man sich die eventuellen Nullen mit der ersten auf sie folgenden Ziffer [ungleich 0] zu je einer Gruppe verbunden, und dehne das Abbildungsgesetz [das Mischverfahren] auf diese Zahlengruppen aus 1).“ Die Fußnote 1) hierzu ist: „1) Dieser Gedanke rührt von J. König her.“