Die Mächtigkeit der reellen Funktionen

Wir haben || < || gezeigt. Die natürliche Frage ist nun:

Gibt es Mengen M mit || < |M|?

 Die Antwort ist ja. Cantors Diagonalargument kann man verwenden, um zu zeigen, dass die Menge der reellen Funktionen größer ist als :

Definition (reelle Funktionen)

Eine reelle Funktion ist ein f :   .

Die Menge aller reellen Funktionen bezeichnen wir mit 𝔉.

 Es gilt also 𝔉 = . Wir zeigen nun:

Satz (über die Mächtigkeit der reellen Funktionen)

Es gilt || < |𝔉|.

Beweis

Zunächst gilt || ≤ |𝔉|: Wir setzen für alle x  ∈  

g(x)  =  fx  ∈  𝔉,  wobei fx(y) = x für alle y  ∈  .

Dann ist g :   𝔉 injektiv.

Sei nun F :   𝔉 beliebig. Wir zeigen, dass F nicht surjektiv ist. Hierzu definieren wir eine reelle Funktion d wie folgt. Für x  ∈   sei

d(x)  =  F(x)(x) + 1.

[Es gilt F(x)  ∈  𝔉 für alle x  ∈  . F(x) ist also eine reelle Funktion, die wir an der Stelle x auswerten können. Der um eins erhöhte Wert dieser Auswertung ist d(x).]

Wir zeigen, dass d :    nicht im Wertebereich der Funktion F liegt.

Annahme doch. Sei also y  ∈   mit F(y) = d. Dann gilt

F(y)(x)  =  d(x)  für alle x  ∈  .

Insbesondere gilt  F(y)(y) = d(y). Aber

d(y)  =  F(y)(y)  +  1,

Widerspruch! Also ist d  ∉  rng(F), und damit F nicht surjektiv.

 Aus der Überabzählbarkeit der reellen Zahlen und der Abzählbarkeit der algebraischen Zahlen haben wir die Existenz von transzendenten Zahlen gewonnen. Nun haben wir „über-reell“ für die Größe der Menge der reellen Funktionen bewiesen. Kann man ein Analogon finden zum Beweis der Existenz von transzendenten Zahlen?

 In gewisser Weise ist das möglich. Für diese Ausführungen müssen wir allerdings beim Leser einige Kenntnisse der reellen Analysis voraussetzen.

 Wir betrachten zunächst die Größe bestimmter natürlicher Teilmengen von 𝔉. Klar ist, dass die Menge aller konstanten Funktionen, d. h. aller fc :    mit fc(x) = c für alle x  ∈   für ein gewisses c  ∈  , die Größe von  hat.

 Komplizierter ist schon die Menge 𝔖 = { f  ∈  𝔉 | f ist stetig } der stetigen reellen Funktionen. Intuitiv bedeutet die Stetigkeit einer reellen Funktion f im Punkt a, dass f (x) nahe bei f (a) liegt, wenn x nahe bei a ist. Die genaue Definition ist:

Eine Funktion f :    heißt stetig in einem Punkt a  ∈  , wenn gilt:

Für alle ε > 0 existiert ein δ > 0, sodass für alle x gilt:

 |x − a| < δ  folgt  |f (x) − f (a)| < ε.

f heißt stetig, falls f stetig in allen a  ∈   ist.

 Aus dieser Bedingung folgt nun aber, dass eine stetige Funktion bereits durch ihre Werte auf  eindeutig bestimmt ist:

Übung

Sind f, g  ∈  𝔖, und ist f| = g| , so gilt f = g.

 Dies bedeutet, dass es höchstens so viele stetige Funktionen gibt wie Funktionen f :   . Nach unseren Ergebnissen aus dem letzten Kapitel ist aber

|{ f | f :    }|  =  ||  =  ||  =  ||.

Also gilt |𝔖| ≤ ||. Andererseits ist jede konstante Funktion auf  stetig, also gilt || ≤ |𝔖| ≤ ||, und damit |𝔖| = ||. Es gibt also lediglich so viele stetige Funktionen wie reelle Zahlen. Da jede differenzierbare Funktion stetig und jede konstante Funktion differenzierbar ist, folgt auch, dass die differenzierbaren Funktionen die Mächtigkeit von  haben. [Differenzierbare Funktionen sind anschaulich stetige Funktionen ohne „Knicke“.]

Hessenberg (1906, § 29):

„ … In analoger Weise lässt sich beweisen, dass die Menge aller stetigen Funktionen von der Mächtigkeit des Kontinuums ist. Überraschend sind diese Resultate aus dem gleichen Grunde wie die Abzählbarkeit der rationalen Zahlen, weil offenbar die Anordnung der Punkte eines Raumes durch die Zuordnung in das Kontinuum völlig zerstört wird, während umgekehrt die Menge der stetigen Funktionen eine Ordnung erhält, die ihr nach der ursprünglichen Definition nicht zukommt.

 Läßt man die Beschränkung der Stetigkeit fallen und betrachtet die Menge aller [reellen] Funktionen … , so ist diese … von größerer Mächtigkeit als das Kontinuum.

 Hiermit sind drei Mengen aufgewiesen, die schon lange vor Schöpfung der Mengenlehre Gegenstand mathematischer Arbeit waren: die Menge der ganzen Zahlen, der reellen Zahlen und der Funktionen. Sie sind nicht erst zu dem Zweck konstruiert, die Möglichkeit verschiedener Mächtigkeiten darzutun, vielmehr boten sie sogleich der Mengenlehre einen fruchtbaren Anknüpfungspunkt an vorhandene Arbeitsgebiete.“

 Nun kann man aber überraschenderweise zeigen, dass die Menge der Riemann-integrierbaren Funktionen die Mächtigkeit von 𝔉 besitzt.

Übung (Voraussetzung: Kenntnis des Begriffs „Riemann-integrierbar“ )

Beweisen Sie diese Behauptung.

[Betrachten Sie die Cantormenge C ⊆ [ 0, 1 ] und Funktionen

f : [ 0, 1 ]  [ 0, 1 ], die außerhalb von C gleich 0 sind. Es gilt |C| =||.]

 Dagegen ist die Menge aller f  ∈  𝔉, die durch eine abzählbare Menge von stetigen Funktionen eindeutig beschreibbar/approximierbar sind, von der Mächtigkeit || = ||. Dies zeigt den „transzendenten“ Charakter der integrierbaren Funktionen: allein ihre Anzahl bringt schon mit sich, dass es integrierbare Funktionen f gibt, die nicht durch eine Folge f 0, f1, …, fn, … von stetigen Funktionen punktweise approximiert werden können. Das gleiche gilt für jedes Reservoir von approximierenden Funktionen der Größe .