Biographie von Georg Cantor (1845 − 1918)

3. 3. 1845 Geburt von Georg Ferdinand Ludwig Philipp Cantor in Petersburg als Sohn des Kaufmanns Georg Woldemar Cantor (geboren in Kopenhagen, evangelisch-lutherisch) und Maria Anna Böhm (geboren in Petersburg, römisch-katholisch). Der vielseitig interessierte Cantor wächst in einer musischen Familie auf − sein Großonkel mütterlicherseits war Direktor des Konservatoriums in Wien. A. Fraenkel schreibt: „Der Vater leitete die Erziehung von ungewöhnlich hohen Gesichtspunkten aus; Energie, Charakterfestigkeit sowie eine das ganze Leben durchdringende Religiosität schwebten ihm als besonders wesentlich vor … “.

1856 Umzug der Familie wegen eines Lungenleidens des Vaters nach Frankfurt am Main. Cantor besucht bis 1859 das Gymnasium in Wiesbaden, Privatschulen in Frankfurt, und danach die Großherzoglich Hessische Real- und obere Gewerbeschule in Darmstadt.

1860 In einem Brief zur Konfirmation, den Cantor sorgfältig aufbewahrt hat, schreibt sein Vater: „ … dieser feste Kern, der in uns leben muss, das ist: ein wahrhaft religiöses Gemüt! … Um aber auch allen jenen anderen Drangsalen und Schwierigkeiten zu begegnen, die … durch Neid und Verleumdung offener oder geheimer Feinde unausweichlich sich uns entgegentürmen, … dazu gehört in erster Reihe die Erwerbung und Aneignung der größtmöglichen Summe gründlichster, vielseitigster Fachkenntnisse und Fähigkeiten … vielseitige Bildung des Geistes, auch in manchen humanistischen Wissenschaften … Deine Eltern … haben ihre Augen auf Dich als ältesten gerichtet und erwarten von Dir … später vielleicht auch ein leuchtendes Gestirn am Horizonte der Ingenieure [zu werden].“

1862 Der Vater willigt ein in den Wunsch von Georg Cantor, Mathematik zu studieren. Cantor schreibt am 25. Mai an den Vater: „Mein lieber Papa! Wie sehr Dein Brief mich freute kannst Du Dir denken; er bestimmt meine Zukunft … was der Mensch will und kann, und wozu ihn eine unbekannte, geheimnisvolle Stimme treibt, das führt er durch“. Im Herbst beginnt Cantor das Studium in Zürich.

1863 Plötzlicher Tod des Vaters. Die Familie zieht nach Berlin.

1863 − 1866 Studium der Mathematik, Physik und Philosophie in Berlin. Das Sommersemester 1866 verbringt Cantor in Göttingen. In Berlin befreundet er sich mit Hermann Schwarz (1843 − 1921). Cantor hört Vorlesungen bei Leopold Kronecker (1823 − 1891), Ernst Kummer (1810 − 1893), Karl Weierstraß (1815 − 1897). Vor allem Weierstraß prägt den an der Analysis besonders interessierten Cantor.

14. 12. 1866 Promotion an der Universität Berlin mit einer Arbeit aus der Zahlentheorie („De aequationibus secundi gradus indeterminatis“ ), hervorgegangen aus dem Studium von Gauß′ „Disquisitiones arithmeticae“. Berühmt ist eine von Cantor bei der Promotion verteidigte These: „In re mathematica ars proponendi quaestionem pluris facienda est quam solvendi.“

1868 Cantor legt zusätzlich die Lehramtsprüfung ab.

1869 Habilitation in Halle wieder mit einer Arbeit aus der Zahlentheorie („De transformatione formarum ternariarum quadraticarum“, 12 Seiten). Cantor beschäftigt sich danach, angeregt durch den Hallenser Kollegen Eduard Heine (1821 − 1881), mit dem Problem der Eindeutigkeit der Entwicklung einer Funktion in eine trigonometrische Reihe, an dem Heine, Lejeune Dirichlet (1805 − 1859), Rudolf Lipschitz (1832 − 1903) und Bernhard Riemann (1826 − 1866) gescheitert waren. Dieses Problem wurde der Ausgangspunkt für die Entstehung der Mengenlehre.

In der „Zeitschrift für Mathematik und Physik“ erscheinen zwei Arbeiten von Cantor über die Darstellung reeller Zahlen: Eine Verallgemeinerung der n-adischen Darstellung („Cantorsche Reihen“ ) und eine Produktdarstellung.

1870 Cantor löst das Eindeutigkeitsproblem der trigonometrischen Reihenentwicklung. Die Arbeit erscheint im „Crelles Journal für Mathematik“. Bis 1872 gelingen Cantor verschiedene Verallgemeinerungen des Eindeutigkeitssatzes. Er entwickelt seine Theorie der reellen Zahlen als Fundamentalreihen (veröffentlicht 1872); die allgemeine Methode der Vervollständigung eines Raumes hat hier ihren Ursprung. Der Begriff der iterierten Ableitung einer Punktmenge führt Cantor ins Reich des Transfiniten. Die Untersuchung von allgemeinen Mengen von reellen Zahlen unabhängig von Problemen der Reihenentwicklung tritt in den Vordergrund.

1872 Cantor wird Extraordinarius in Halle. Bei einer Reise in die Schweiz schließt er Freundschaft mit Richard Dedekind (1831 − 1916). Es beginnt ein intensiver Briefwechsel mit Dedekind bis zum Jahr 1879. In Berlin lernt Cantor seine spätere Frau Vally Guttmann (1849 − 1923) kennen, eine Freundin seiner Schwester Sophie.

1873 Brieflich diskutiert Cantor mit Dedekind, ob sich die natürlichen und die reellen Zahlen bijektiv aufeinander abbilden lassen. Cantor kennt die Abzählbarkeit der rationalen Zahlen, Dedekind weist auf die Abzählbarkeit der algebraischen Zahlen hin. Am 7. Dezember teilt Cantor Dedekind einen Beweis der Überabzählbarkeit der reellen Zahlen mit. Aus der Abzählbarkeit der algebraischen Zahlen folgt so ein neuer Beweis der Existenz transzendenter Zahlen.

1874 In „Über eine Eigenschaft des Inbegriffs aller reellen algebraischen Zahlen“ („Crelles Journal für Mathematik“ ) veröffentlicht Cantor seinen nach Vorschlägen von Dedekind modifizierten Beweis. Die Arbeit ist die wissenschaftliche Geburtsstunde der Mengenlehre.

9. 8. 1874 Heirat mit Vally Guttmann. Aus der Ehe gehen bis 1886 vier Töchter und zwei Söhne hervor.

1877 Brieflich teilt Cantor am 20. Juni Dedekind einen (leicht fehlerhaften) Beweis der Gleichmächtigkeit eines eindimensionalen mit einem mehrdimensionalen Kontinuum mit. Das Problem hatte Cantor bereits seit 1874 beschäftigt. Mit Dedekind diskutiert er das Problem, was die Dimension eines Raumes ausmache; Dedekind weist auf die Unstetigkeit der Cantorschen Bijektion hin. (Das Problem wurde erst 1911 von Luitzen Brouwer endgültig gelöst.)

1878 In „Ein Beitrag zur Mannigfaltigkeitslehre“ („Crelles Journal“ ) erscheint der verbesserte Beweis der Gleichmächtigkeit von Kontinua verschiedener Dimension. Cantor verwendet in der Arbeit den Mächtigkeitsbegriff, er erwähnt das Kontinuumsproblem und behauptet den Vergleichbarkeitssatz. Die Arbeit erscheint erst nach längerer Verspätung, Weierstraß und Dedekind setzten sich für sie ein, Kronecker scheint sie behindert zu haben. Von Kronecker, der Cantors Ideen aus ideologischen Gründen ohne sachliche Einwände ablehnt, weht Cantor von nun an ein immer stärkerer Wind entgegen − Hilbert spricht später vom „Dogmatismus Kroneckers“. Cantor veröffentlicht im „Crelles Journal“ keine Arbeiten mehr.

Im gleichen Jahr lehnt Cantor eine Berufung nach Münster ab.

1879 Ordinarius in Halle auf Empfehlung von Heine.

1879 − 1884 In den „Mathematischen Annalen“ erscheinen sechs Arbeiten von Cantor unter dem Titel „Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten“, separat auch Nr. 5 (1883): „Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre“. Die Reihe bildet zusammen mit der Arbeit von 1895 − 1897 Cantors Hauptwerk. Cantor entwickelt die Grundbegriffe der Mengenlehre − insbesondere die Konzepte der Mächtigkeit und der transfiniten Zahlen, und der mengentheoretischen Topologie. Auf Cantor gehen etwa die Begriffsbildungen „abgeschlossen“, „offen“, „dicht“, „isolierter Punkt“, „perfekt“, „zusammenhängend“ zurück. Weiter diskutiert er seine arithmetische Definition der reellen Zahlen und den Begriff des Kontinuums.

1882 Dedekind lehnt einen durch Cantor eingeleiteten Ruf nach Halle als Nachfolger von Heine ab, was die Freundschaft zwischen Cantor und Dedekind belastet.

1883 Cantor bewirbt sich erfolglos um eine Professur in Berlin. Die vergebliche Suche nach einer Lösung des Kontinuumsproblems und das Verhältnis zu Kronecker belasten Cantor. Einen Förderer seiner Ideen findet er in Gösta Mittag-Leffler (1846 − 1927), mit dem Cantor lebenslang freundschaftlich verbunden bleibt. Die durch Mittag-Leffler gegründete Zeitschrift „Acta Mathematica“ trug viel zur Verbreitung der Cantorschen Theorie der Punktmengen bei.

5. 1884 Erste schwere psychische Erkrankung und Depression nach Rückkehr von einer Reise nach Frankreich. Sanatoriumsaufenthalt in der Nervenklinik Halle. Ende einer langen mathematisch fruchtbaren Periode. Cantor erwägt, sich von der Mathematik hin zur Philosophie zu wenden, und entwickelt die mit großem Eifer verfolgte These, dass Francis Bacon die Shakespeareschen Dramen geschrieben hat. Diese im 19. Jahrhundert zeitweise recht populäre Idee begleitet ihn von nun an.

1885 Aus nicht vollständig geklärten Gründen weist Mittag-Leffler eine Arbeit von Cantor für die „Acta“ zurück, nachdem ein Teil bereits gesetzt war [Cantor 1884x]. Der mathematische Inhalt der Arbeit findet sich erst in Cantors letzter mengentheoretischer Veröffentlichung 1895/1897.

1886 − 1888 Cantor diskutiert und verteidigt seine Ideen über das Unendliche in mehreren Arbeiten in der „Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik“. Daneben korrespondiert er intensiv mit Mathematikern, Philosophen und Theologen.

18. 9. 1890 Gründung der DMV (Deutsche Mathematiker-Vereinigung), an welcher Cantor entscheidenden Anteil hat. Erste Tagung der DMV in Halle im September 1891 (Cantor lud Kronecker ein, die Eröffnungsrede zu halten; dieser musste wegen des Todes seiner Frau absagen). Präsident der DMV bis 1893. Weiter setzt er sich für die Idee eines „Internationalen Mathematikerkongresses“ ein.

1892 In „Über eine elementare Frage der Mannigfaltigkeitslehre“ im „Jahresbericht der DMV“ wendet Cantor zum ersten Mal das Diagonalverfahren an und zeigt damit, dass die Potenzmenge einer Menge stets von größerer Mächtigkeit ist als die Menge selbst. Cantor hatte dieses Resultat auf der ersten DMV-Tagung vorgetragen.

1895 − 1897 Cantors letzte mengentheoretische Veröffentlichung, eine große, zweiteilige Arbeit erscheint in den „Mathematischen Annalen“: „Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre.“ Sie enthält eine Gesamtdarstellung seiner Mengenlehre; weiter beweist Cantor seine ordnungstheoretischen Charakterisierungen der rationalen und der reellen Zahlen. Zermelo schreibt über diese Arbeit: „[Diese Abhandlung] bildet den eigentlichen Abschluß seines Lebenswerkes. Hier erhalten die Grundbegriffe und Ideen, nachdem sie sich im Laufe von Jahrzehnten allmählich entwickelt haben, ihre endgültige Fassung, und viele Hauptsätze der „allgemeinen“ Mengenlehre finden erst hier ihre klassische Begründung.“

Allmählich setzt eine allgemeine Würdigung seines Werkes ein.

1895 Spätestens in diesem Jahr Entdeckung von Paradoxien in der Mengenlehre. Cantor entwickelt eine Unterscheidung von „absolut unendlichen“ oder „inkonsistenten Gesamtheiten“, was inhaltlich „echten Klassen“ in heutiger Terminologie entspricht (Briefe an Hilbert 1897 und Dedekind 1899). Weiter veröffentlicht Cantor eine Tabelle zur Goldbachschen Vermutung, an der er lange gearbeitet hatte.

1896 Tod der Mutter.

1897 Erneuerung der Freundschaft mit Dedekind während des ersten „Internationalen Mathematikerkongresses“ in Zürich. Jacques Hadamard (1865 − 1963), David Hilbert, Adolf Hurwitz (1859 − 1919) und Hermann Minkowski (1864 − 1909) betonen die herausragende Bedeutung der Cantorschen Mengenlehre. Bedeutende Rezeption seiner Ideen in Frankreich. Cantor arbeitet intensiv am Kontinuumsproblem.

1899 Erneute psychische Erkrankung und Aufenthalt in der Nervenklinik Halle. Mehrere Todesfälle in der Familie. Vorträge über die Bacon-Shakespeare-Theorie.

1900 Hilbert setzt auf dem zweiten „Internationalen Mathematikerkongreß“ in Paris das Kontinuumsproblem an die erste Stelle seiner Liste von Problemen für das 20. Jahrhundert.

1901 Ehrenmitglied der „London Mathematical Society“, was Cantor, der sich in Deutschland übergangen fühlte, eine lebenslange Freude bereitete.

1902 Ehrendoktor der Universität Christiania in Oslo.

1902 − 1904 Erneute psychische Erkrankungen, die jeweils im Winter einsetzen. Befreiungen von der Lehrverpflichtung.

1904 Sylvester-Medaille der Royal Society. Auf dem dritten „Internationalen Mathematikerkongreß“ in Heidelberg versetzt Julius König die Mathematik in Aufruhr durch seine „Widerlegung“ der Kontinuumshypothese: Mit Hilfe eines fehlerhaften Hilfssatzes aus der Dissertation von Bernstein 1901 zeigt er, dass die Mächtigkeit des Kontinuums größer ist als die jeder Wohlordnung. Felix Hausdorff und Ernst Zermelo (?) finden den Fehler des Beweises. (Hausdorff formuliert daraufhin die „Hausdorff-Formel“ der Kardinalzahlarithmetik, die das falsche Resultat von Bernstein korrigiert; Zermelo beweist im selben Jahr den Wohlordnungssatz, der das Resultat von König endgültig widerlegt.) Cantor gerät durch die Ereignisse in große innere Unruhe.

1907/ 1911 Zwei längere Klinikaufenthalte von Oktober 1907 − Juni 1908 und September 1911 − Juni 1912.

1911 Cantor besucht die 500-Jahr-Feier der University of St. Andrews in Schottland, wo er 1912 (in Abwesenheit) zum Ehrendoktor ernannt wird. Zu einem Treffen mit Bertrand Russell kommt es aus gesundheitlichen Gründen nicht.

1913 Emeritierung.

1914 Felix Hausdorffs (1868 − 1942) „Grundzüge der Mengenlehre“ erscheint, eines der ersten umfassenden Lehrbücher zur Mengenlehre und das wichtigste seiner Zeit. Gewidmet Georg Cantor, dem „Schöpfer der Mengenlehre“, „in dankbarer Verehrung“.

1915 Großangelegte Feier anläßlich Cantors 70. Geburtstag in Halle − wegen des Krieges konnten allerdings nur deutsche und österreichische Mathematiker eingeladen werden.

11. 5. 1917 Letzte Einlieferung in die Nervenklinik Halle, wo er bis zu seinem Tod bleibt. Wiederholte briefliche Bitten an seine Familie, ihn aus dem Sanatorium zu befreien. Die moderne, auf Klinikaufzeichnungen beruhende Diagnose sieht Cantors psychische Anfälle als endogen verursachte Krankheit mit manisch-depressivem Charakter, und sie weist entgegen populären Interpretationen äußeren Ereignissen (Kontinuumshypothese, Verhältnis zu Kronecker) eine untergeordnete Rolle zu.

6. 1. 1918 Tod nach einem Herzanfall in der Nervenklinik Halle. David Hilbert schreibt in einem Beileidsbrief an Cantors älteste Tochter Else: „ … Ist es doch nicht bloß der große Gelehrte und Forscher von einzig dastehender Originalität, sondern auch der großzügige Mensch und treue anhängliche Freund, den wir nicht mehr haben, der aber desto fester in unserem Gedächtnis leben wird. Gerade vor einigen Tagen hatte ich Gelegenheit zu erfahren, wie stark die Lehren Ihres Vaters auf eine kongeniale Natur wirkten. Ich setzte Einstein auf meinem Besuch bei ihm in Berlin das klassische Verfahren auseinander, wie Ihr Vater die Unmöglichkeit bewiesen hat, die irrationalen Zahlen ‚abzuzählen‘ usw. Und Einstein, der alles sofort erfasste, war ganz überwältigt von der Großartigkeit dieser Gedanken … “