Die Cantormenge
Der Beweis des Satzes über die Mächtigkeit der perfekten Mengen benutzt die Idee der Cantormenge C. Diese Menge ist uns bereits bei der Diskussion von |ℝ| = |ℕ2| = |℘(ℕ)| begegnet (1.9). Hier noch einmal die Definition.
Definition (Cantormenge)
Die Cantormenge C besteht aus allen reellen Zahlen x, die eine (nicht notwendig kanonische) Ternärdarstellung x = 0, c1 c2 c3 … besitzen mit cn ∈ { 0, 2 } für alle n ≥ 1. C heißt auch das Cantorsche Diskontinuum.
Offenbar gilt C ⊆ [ 0, 1 ]. Für eine reelle Zahl x = 0, d1 d2 d3 … in Dezimaldarstellung gilt
x = sup { d1/10 + d2/102 + … + dn/10n | n ≥ 1 }.
Ebenso gilt für eine reelle Zahl x = 0, c1 c2 c3 … in Ternärdarstellung (d. h. 3-adischer Darstellung), dass
x = sup { c1/3 + c2/32 + … + cn/3n | n ≥ 1 }.
Die Cantormenge ist die Menge all derer Summen, in denen cn nur die Werte 0 oder 2 annimmt, was wir suggestiv wie folgt schreiben können:
C = { x ∈ ℝ | x = c1/3 + c2/32 + … + cn/3n + … , mit cn ∈ { 0, 2 } für alle n ≥ 1 }.
Der mittlere der möglichen Werte 0, 1 und 2 wird in den Ternärdarstellungen von x ∈ C gerade vermieden. Diese arithmetische Eigenschaft hat ein geometrisches Gegenstück: Ist die erste Nachkommastelle eines x ∈ C gleich 0, so liegt x im ersten Drittel [ 0, 1/3 ] des Einheitsintervalls; ist sie gleich 2, so liegt x im dritten Drittel [ 2/3, 1 ]. Ist die erste und die zweite Nachkommastelle gleich 0, so liegt x im ersten Drittel von [ 0, 1/3 ], also gilt x ∈ [ 0, 1/9 ]. Ist die erste Nachkommastelle 0, die zweite 2, so liegt x im dritten Drittel von [ 0, 1/3 ], also gilt x ∈ [ 2/9, 1/3 ], usw. usf.
Die Cantormenge kann man auf diese Weise durch iteriertes Entfernen von mittleren Dritteln aus Intervallketten anschaulich machen − und dabei zugleich Sympathie für diese Menge entwickeln. Wir starten mit dem Einheitsintervall [ 0, 1 ] und entfernen dann wiederholt die offenen mittleren Drittelintervalle aus [ 0, 1 ] und den verbleibenden Resten:
Mit C0 = [ 0, 1 ] gilt also für alle n ∈ ℕ:
Cn + 1 = Cn ∩ ⋃0 ≤ k < 3n + 1, k gerade [ k/3n + 1, (k + 1)/3n + 1 ].
Alle Teilintervalle der Mengen Cn sind abgeschlossen, und 〈 Cn | n ∈ ℕ 〉 ist damit eine ⊆-absteigende Folge von abgeschlossenen, nichtleeren und beschränkten Mengen. Also ist auch ihr Schnitt
Cω = ⋂n ∈ ℕ Cn
abgeschlossen und nichtleer. Cω ist nun gerade die Cantormenge:
Übung
Es gilt Cω = C.
Definition (natürliche Approximation von C)
Die Folge 〈 Cn | n ∈ ℕ 〉 heißt die natürliche Approximation der Cantormenge C.
Bemerkenswert ist weiter, dass die Cantormenge die Ableitung der linken (oder auch der rechten) Randpunkte der Intervalle in den Mengen Cn ist:
Übung
Sei P = { x ∈ [ 0, 1 ] | x = 0, c1 … cn in Ternärdarstellung mit ci ∈ { 0, 2 } für 1 ≤ i ≤ n, n ∈ ℕ }.
Dann ist P ⊆ ℚ und es gilt P′ = C.
Die Menge C hat Cantor in einer Anmerkung des fünften Teils der „Linearen Punktmannigfaltigkeiten“ eingeführt (1883b, Anmerkung 11), als Beleg für seine Behauptung, dass eine nichtleere perfekte Menge keineswegs ein Intervall enthalten muss.
Cantor (1883b):
„Als ein Beispiel einer perfekten Punktmenge, die in keinem noch so kleinen Intervall überall dicht ist, führe ich den Inbegriff aller reellen Zahlen an, die in der Formel:
z = c1/3 + c2/32 + … + cν/3ν + … .
enthalten sind, wo die Koeffizienten cν nach Belieben die beiden Werte 0 und 2 anzunehmen haben und die Reihe sowohl aus einer endlichen, wie aus einer unendlichen Anzahl von Gliedern bestehen kann.“
Die Behauptungen „perfekt“ und „in keinem Intervall dicht“ zeigt der folgende Satz.
Satz (Eigenschaften der Cantormenge C)
(i) | C ist perfekt. |
(ii) | C enthält kein Intervall [ a, b ] für a, b ∈ ℝ mit a < b. |
(iii) | Es gilt |C| = |ℝ|. |
Beweis
zu (i):
Wegen C = Cω = ⋂n ∈ ω Cn ist C abgeschlossen.
(Dies kann man auch direkt aus der Definition beweisen: Ein Häufungspunkt von C hat eine Ternärdarstellung, in der keine 1 als Nachkommastelle vorkommt.)
Wir müssen noch zeigen, dass jedes x ∈ C ein Häufungspunkt von C ist. Sei also x ∈ C, und sei
x = 0, c1 c2 c3 … mit cn ∈ { 0, 2 } für alle n ≥ 1.
Ist { n ∈ ℕ | cn ≠ 0 } unbeschränkt in ℕ, so sei xn = 0, c1 … cn für n ≥ 1. Dann ist X = { xn | n ≥ 1 } ⊆ C, x ∉ X und x = sup(X). Also ist x Häufungspunkt von C.
Andernfalls sei k = min { n ≥ 1 | cm = 0 für alle m ≥ n }. Weiter setzen wir y = 0, c1 … ck − 1 (also y = 0 für k = 1). Für n ≥ k sei xn = y + 2/3n, also
xn = 0, c1 … ck − 1 0 … 0 2,
wobei die letzte 2 die n-te Nachkommastelle ist. Dann ist
X = { xn | n ≥ k } ⊆ C, x ∉ X und x = inf (X).
Also ist x auch in diesem Fall ein Häufungspunkt von C.
zu (ii):
Sei [ a, b ] ⊆ [ 0, 1 ], a < b, und sei ε = b − a. Sei n ∈ ℕ mit 1/3n < ε/2. Dann existiert ein k ∈ ℕ mit 0 ≤ k < 3n und
[ k/3n, (k + 1)/3n ] ⊆ [ a, b ].
Sei I = [ k/3n, (k + 1)/3n ]. Das offene mittlere Drittelintervall
] (3k + 1)/3n + 1, (3k + 2)/3n + 1 [
von I hat aber mit C = Cω leeren Schnitt, also kann wegen I ⊆ [ a, b ] nicht [ a, b ] ⊆ C gelten.
zu (iii):
Jedes x ∈ C hat eine eindeutige Darstellung (!)
x = 0, c1 c2 c3 … mit cn ∈ { 0, 2 } für n ≥ 1,
und jedes so darstellbare x ist in C. Flglich gilt
|C| = |ℕ − { 0 } { 0, 2 }| = 2ω = |ℝ|.
Die Cantormenge ist damit ein Beispiel für eine überabzählbare abgeschlossene Menge, die kein Intervall enthält. C ist ein Zwitterwesen: Es ist weder aus verborgen isolierten Punkten noch aus Abschnitten der Linie zusammengesetzt. Derartige Mengen lassen sich durch die Methode der Entfernung von Intervallen vielfältig erzeugen. Umgekehrt werden wir unten zeigen, dass alle nichtleeren perfekten Mengen, die keine Intervalle enthalten, mit dieser Methode erzeugt werden können.
Aufgrund der Wichtigkeit der Cantormenge vergeben wir ein festes Zeichen für ihren Ordnungstyp unter der von den reellen Zahlen ererbten Ordnung.
Definition (der Ordnungstyp der Cantormenge)
Wir setzen ξ = o. t.(〈 C, < 〉).
Übung
Es gilt ξ = explex(2, ω).