13. Die Vielheit aller Ordinalzahlen
Zum Abschluss dieses Abschnitt zeigen wir, dass die Annahme der Existenz der Menge aller Ordinalzahlen zu Widersprüchen führt. Diese Tatsache ist in der Literatur als Paradoxie von Burali-Forti bekannt [Burali-Forti, 1897]. Cantor war mit der Unmöglichkeit einer Zusammenfassung aller Ordinalzahlen zu einem Ganzen aber spätestens seit 1897 vertraut, wie aus seinen Briefen an Dedekind und Hilbert hervorgeht.
Ordinalzahlparadoxon von Cantor und Burali-Forti
Wir setzen:
Ω = | { α | α ist eine Ordinalzahl } = |
{ α | α ist Ordnungstyp einer Wohlordnung }. |
Für die Relation < auf Ω × Ω gilt:
〈 Ω, < 〉 ist eine Wohlordnung.
Dann hat 〈 Ω, < 〉 einen bestimmten Ordnungstyp. Sei
δ = o. t.(〈 Ω, < 〉).
Offenbar gilt
(+) α < δ für jede Ordinalzahl α.
(Denn 〈 W(α), < 〉 ist ein Anfangsstück von 〈 Ω, < 〉 des Ordnungstyps α.)
Also gilt wegen (+) δ < δ, Widerspruch!
Cantor (3. 8. 1899, Brief an Dedekind):
„Es kann Ω′ [hier = Ω] (und daher auch Ω) [hier = Ω − { 0 }] keine konsistente Vielheit [Menge] sein; wäre Ω′ konsistent, so würde ihr als einer wohlgeordneten Menge eine Zahl δ zukommen, die größer wäre als alle Zahlen des Systems Ω; im System Ω kommt aber, weil es alle Zahlen umfasst, auch die Zahl δ vor; es wäre also δ größer als δ, was ein Widerspruch ist. Also
A. Das System Ω aller Zahlen ist eine inkonsistente, eine absolut unendliche Vielheit [echte Klasse].“
Die Zusammenfassung aller Ordinalzahlen zu einem Ganzen führt also zu Widersprüchen. Ω ist, wie die Russell-Zermelo-Klasse R oder das Universum V, zu groß, um eine Menge zu sein. Die Reihe der Ordinalzahlen
0, 1, 2, … , ω, … , α, …
ist, im Cantorschen Sinne, absolut unendlich.
Man kann auch wie folgt argumentieren:
Annahme, Ω ist eine Menge. Sei dann δ = sup(Ω). Dann ist δ ∈ Ω. Da keine größte Ordinalzahl existiert, ist das Supremum echt, und daher gilt α < δ für alle α ∈ Ω, insbesondere also δ < δ, Widerspruch!
Ebenso zeigt man, dass die Kardinalzahlen keine Menge bilden:
Alephparadoxon von Cantor
Wir setzen:
ת = { ℵα | α ∈ Ω }.
[ת = taw ist der letzte Buchstabe des hebräischen Alphabets, wie Ω der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets ist. Die Bezeichnung verwendet Cantor in einem Brief an Dedekind, s. u.]
Annahme, ת ist eine Menge. Sei dann
ℵ* = sup(ת).
Da das Supremum einer Menge von Kardinalzahlen wieder eine Kardinalzahl ist, gilt ℵ* ∈ ת. Andererseits hat ת kein größtes Element, denn ist κ ∈ ת, κ = ℵα, so ist κ < ℵα + 1. Also ist das Supremum echt, und damit gilt κ < ℵ* für alle κ ∈ ת. Insbesondere also ℵ* < ℵ*. Widerspruch!
Nach dem Wohlordnungssatz ist ת = Kard = { 𝔞 | 𝔞 ist Kardinalzahl }. Dies wird für das Argument nicht gebraucht. Wir brauchen, dass κ+ existiert für alle κ ∈ ת, d. h. wir brauchen: Für alle Ordinalzahlen α existiert eine Ordinalzahl β mit |W(α)| < |W(β)|. Der Satz von Hartogs liefert uns diese Aussage (oder natürlich der Wohlordnungssatz). Cantor kannte in den Jahren vor 1900, als er sich intensiv mit dem Phänomen der inkonsistenten Zusammenfassungen beschäftigte, den Satz von Hartogs noch nicht, und den Wohlordnungssatz wollte er gerade beweisen. Er rechtfertigt die Existenz von κ+ etwa so: Sei ℵα ∈ ת, und sei Zα = { β | β ist Ordinalzahl und |W(β)| ≤ ℵα }. Dann ist 〈 Zα, < 〉 eine Wohlordnung. Sei also γ = o. t.(〈 Zα, < 〉). Offenbar gilt dann einfach Zα = W(γ), und also insbesondere γ ∉ Zα. Also ℵα < |W(γ)|. Dann aber |W(γ)| = ℵα + 1, denn für jedes β < γ gilt |W(β)| ≤ ℵα.
Der Punkt hier ist: Warum dürfen wir Zα bilden? Oder genauer: Warum ist die Zusammenfassung Zα eine konsistente Vielheit? Nun, wir haben auch ℘(M) gebildet für viele Mengen M. Man wird langfristig um eine axiomatische Einstellung, die derlei Existenzen sichert, nicht herumkommen. Anders ausgedrückt: Man fragt zurück: Warum nicht?
Cantor ist in der Tat selbst auf dieses Problem eingegangen:
Cantor (28. 8. 1899, Brief an Dedekind):
„Man muss die Frage aufwerfen, woher ich denn wisse, dass die wohlgeordneten Vielheiten oder Folgen, denen ich die Kardinalzahlen
ℵ0, ℵ1, …, ℵω0, …, ℵω1, …
zuschreibe, auch wirklich ‚Mengen‘ in dem erklärten Sinne des Wortes, d. h. ‚konsistente Vielheiten‘ seien. Wäre es nicht denkbar, dass schon diese Vielheiten ‚inkonsistent‘ seien, und dass der Widerspruch der Annahme eines ‚Zusammenseins aller ihrer Elemente‘ sich nur noch nicht bemerkbar gemacht hätte? Meine Antwort hierauf ist, dass diese Frage auf endliche Vielheiten ebenfalls auszudehnen ist und dass eine genaue Erwägung zu dem Resultate führt: sogar für endliche Vielheiten ist ein ‚Beweis‘ für ihre ‚Konsistenz‘ nicht zu führen. Mit anderen Worten: Die Tatsache der ‚Konsistenz‘ endlicher Vielheiten ist eine einfache unbeweisbare Wahrheit, es ist ‚Das Axiom der Arithmetik (im alten Sinne des Wortes)‘. Und ebenso ist die ‚Konsistenz‘ der Vielheiten, denen ich die Alephs als Kardinalzahlen zuspreche, ‚das Axiom der erweiterten, der transfiniten Arithmetik.‘
Ich würde sehr gerne diese Sachen mündlich mit Ihnen genauer durchsprechen … Allein ich weiß nicht, ob es nicht für Sie momentan eine Störung in Ihren Arbeiten wäre, wenn ich mich von hier aus für ein paar Stunden zu Ihnen auf den Weg machte?“
Was sich da kurz vor der Jahrhundertwende skizzenhaft abzeichnet, ist seiner Zeit so weit voraus, dass es kaum verwundert, dass ein mündlicher Austausch mit Zeitgenossen schnell im Sand verlief. Die Zweifel an „Konsistenz“-Beweisen für den endlichen Bereich der Mengenwelt sind bemerkenswert. Und für die transfinite Mengenlehre selber ist es weit mehr als eine Axiomatik, die Cantor vorschwebt. Das Axiom der transfiniten Arithmetik ist ein Metaaxiom, oder, wenn man so will, ein Manifest. Es identifiziert Konsistenz und Existenz von Ordinalzahlkomprehensionen. Erst die Inkonsistenz aller Alephs oder aller Ordinalzahlen ist die obere Grenze, das Ende des Weges. Davor ist alles möglich, und solange der Weg der Ordinalzahlen nicht aus Konsistenzgründen den sicheren Boden unter den Füßen verliert, garantiert das Axiom die Existenz fraglicher Zusammenfassungen, im einfachsten Fall etwa die Existenz von Nachfolgerkardinalzahlen. Dies ist ein weit verbreitetes Bild auch der heutigen Mengenlehre, und es schließt mühelos die Existenz großer Kardinalzahlen mit ein. Die Folge der Ordinalzahlen ist so lang und so reich, wie es nur irgendwie geht. Sie selbst ist ihre eigene Grenze und ihr eigenes Ziel. Haben wir α, so haben wir α + 1. Weiter bilden wir Limeszahlen und Limeszahlen von Limeszahlen. Und wir lassen den Prozess ab α solange laufen, bis wir ein β erreichen derart, dass W(β) selbst nicht mehr die Größe von W(α) hat. ‚Fertig‘-Machen. Weiterzählen. Iterieren. Alles Bisherige nehmen, und damit etwas Neues in Gang setzen. (Für Neumann-Zermelo-Ordinalzahlen ist Alles Bisherige zugleich schon das Neue selber.) Erst, wenn Alles Bisherige wirklich Alles ist, sind wir fertig und haben die Ordinalzahlen vor uns ausgerollt, gesetzt, dass wir jemals so weit kommen. Andernfalls können wir nur abstrahieren und den Prozess lediglich als Ganzes von außen betrachten und nicht mit Worten von innen ausleuchten, und dann ist die Inkonsistenz der Menge aller Ordinalzahlen alles, was wir vom Ende des Weges wissen. Cantor hat, mit metaphysisch-religiösen Motiven, in dieser Weise gedacht, bei der die Paradoxien zum festen Bestandteil der Mengenlehre werden, sie nicht bedrohen, sondern ihr einen einzigen, absolut unendlich fernen Punkt vorenthalten, unterhalb dessen sie sich frei entfaltet. Die Erkenntnis der letzten Grenze ist schließlich menschlicher Triumph, und ein nobles Wissen:
Cantor (2. 10. 1897, Brief an Hilbert):
„Sie übersehen jedoch, dass ich in meinem Harzburger Schreiben noch das Charakteristikum ‚fertig‘ gebraucht und gesagt habe:
Theorem: ‚Die Totalität aller Alephs lässt sich nicht als bestimmte und zugleich fertige Menge auffassen.‘
Hierin ist das punctum saliens zu sehen und ich wage es, dieses vollkommen sichere, aus der Definition der ‚Totalität aller Alephs‘ streng beweisbare Theorem als den wichtigsten und vornehmsten Satz der Mengenlehre zu bezeichnen.“
Die Mengenlehre wird zum Gentleman. Sie kennt ihre Möglichkeiten und Grenzen, und nutzt und akzeptiert beide. Man muss sich einmal vor Augen führen, was Cantor aus dem Begriff der linearen Ordnungen, in denen nichtleere Teilmengen ein kleinstes Element haben, gemacht hat. Unter seiner Hand wird dieses Rohmaterial zum grandiosen Weg in einen metaphysischen Nebel. Dieser Weg verlässt nie das sichere Land der Mathematik und bringt doch so viel an Gedankenreichtum mit sich, dass die Mengenlehre zu einer wahrhaft menschlichen Tätigkeit wird. Cantor, der über Herbarts wandelbare Grenze polemisiert hat, steigt nun selber frei die absolut gegebenen Ordinalzahlen empor, das Axiom garantiert ihm, dass er dabei stets weit vom großen Feuerwerk des Endes entfernt ist. Nach ihm ist es erst wieder Paul Mahlo, der ähnlich frei ist, und der für die Mitwelt exorbitant große Kardinalzahlen mit einer Gelassenheit betrachtet, die seine Arbeiten zu einem singulären Ereignis in der Geschichte der Mengenlehre werden ließ − auch wenn Mahlos Kardinalzahlen heute eher schon wieder als klein empfunden werden.
Cantor hat die inkonsistente Vielheit aller Ordinalzahlen als Argument für die Wohlordenbarkeit jeder Menge verwendet: Wir tragen eine Menge M rekursiv ab. Würden wir dabei niemals zu Ende kommen, so entstünde eine Bijektion zwischen Ω und einer Teilmenge N von M. Mit M ist aber auch N eine Menge. Aber N ist dann gleichmächtig mit Ω, also wäre auch Ω eine Menge. Hier finden zwei „Axiome“ über konsistente Vielheiten Anwendung: Teilvielheiten von Mengen sind Mengen, und ist von zwei bijektiv aufeinander abbildbaren Vielheiten die eine eine Menge, so ist es auch die andere.
Cantor hat Hilbert 1898 vier Axiome mitgeteilt, die der Leser am Ende von Abschnitt 3, Kapitel 1 finden wird.)
Briefe von Cantor an Hilbert und Dedekind schildern diesen Beweisversuch des Wohlordnungssatzes. Cantors Ziel war es zu zeigen, dass die Kardinalität einer beliebigen Menge ein Aleph ist: Für Cantor ist die Kardinalität einer Menge immer definiert durch einen zweifachen Abstraktionsprozess; die Alephs dagegen sind spezielle Kardinalitäten, nämlich die Kardinalzahlen, die den wohlgeordneten Mengen zukommen. In unserer Terminologie bedeutet Cantors Ausdruck „jede Kardinalzahl ist ein Aleph“ einfach „jede Menge lässt sich bijektiv auf ein W(β) abbilden für eine Ordinalzahl β“. Es geht also um den Wohlordnungs- und den Vergleichbarkeitssatz.
Cantor (26. 9. 1897, Brief an Hilbert):
„‚Wenn eine bestimmte wohldefinierte fertige Menge eine Kardinalzahl haben würde, die mit keinem der Alephs zusammenfiele, so müßte sie Teilmengen enthalten, deren Kardinalzahl irgend ein Aleph ist, oder mit anderen Worten, die Menge müßte die Totalität aller Alephs in sich tragen.‘
Daraus ist leicht zu folgern, dass unter der gegebenen Voraussetzung (einer bestimmten Menge, deren Kardinalzahl kein Aleph wäre) auch die Totalität aller Alephs als eine bestimmte wohldefinierte fertige Menge aufgefasst werden könnte. Dass dies nicht der Fall ist, habe ich oben bewiesen. Es ist daher jedes 𝔞 auch immer ein bestimmtes Aleph.“
Cantor (3. 8. 1899, Brief an Dedekind):
„Es erhebt sich nun die Frage, ob in diesem System ת [aller Alephs ℵ0, ℵ1, … , ℵω, ℵω + 1, … ] alle transfiniten Kardinalzahlen enthalten sind? Gibt es, mit anderen Worten, eine Menge, deren Mächtigkeit kein Aleph ist?
Diese Frage ist zu verneinen, und der Grund dafür liegt in der von uns erkannten Inkonsistenz der Systeme Ω [aller Ordinalzahlen] und ת.
Beweis: Nehmen wir eine bestimmte Vielheit V und setzen voraus, dass ihr kein Aleph als Kardinalzahl zukommt, so schließen wir, dass V inkonsistent sein muss.
Denn man erkennt leicht, dass unter der gemachten Voraussetzung das ganze System Ω in die Vielheit hineinprojizierbar ist, d. h. dass eine Teilvielheit V ′ von V existieren muss, die dem System Ω äquivalent ist.
V ′ ist inkonsistent, weil Ω es ist, es muss also dasselbe auch von V behauptet werden.
Mithin muss jede transfinite konsistente Vielheit, jede transfinite Menge ein bestimmtes Aleph als Kardinalzahl haben, Also:
C. Das System ת aller Alephs ist nichts anderes als das System aller transfiniten Kardinalzahlen.
… Wir erkennen ferner aus C die Richtigkeit des in [Cantor, 1895] ausgesprochenen [Vergleichbarkeits-] Satzes:
‚Sind 𝔞 und 𝔟 beliebige Kardinalzahlen, so ist entweder 𝔞 = 𝔟 oder 𝔞 < 𝔟 oder 𝔞 > 𝔟.‘
Denn die Alephs haben, wie wir gesehen, diesen Größencharakter.
So viel in Kürze für heute … “
Cantors Intuition ist von der Kraft eines Herkules. Man kann über den Genauigkeitsgrad der Argumentation streiten, aber wie man das Argument formal sauber hinbekommt, steht auf einem ganz anderen Blatt. Unbestritten bleibt, dass Cantor, wo andere sich fürchteten, den Nemeischen Löwen der inkonsistenten Vielheiten mit der Keule erschlagen hat, und dann auch noch sein Fell nutzbringend verwendete.
Im dritten Abschnitt werden wir nun ein Axiomensystem angeben, das die Existenz gewisser Mengen fordert, und dessen Prinzipien wir in den meisten Fällen als die Erlaubnis lesen können, bestimmte Vielheiten zu Mengen zusammenzufassen. Das System erlaubt uns dagegen nicht die volle Mengenkomprehension, und wir können in ihm V, Ω oder ת nicht bilden. Während auf diese Weise die aufgetretenen Paradoxien wegfallen, ist das System andererseits reichhaltig genug, sodass wir alle Objekte, die wir für unsere Sätze und ihre Beweise benötigen, darin als Mengen vorfinden.
Damit verlassen wir die Cantorsche Mengenlehre, bis wir sie in der axiomatischen Robe wiederfinden. Wir haben gesehen, dass Cantors Mengendefinition, die eine Menge als Zusammenfassung bestimmter Objekte zu einem Ganzen beschreibt, sehr sorgfältig gelesen werden muss. Die aufgetretenen Widersprüche sind aber Widersprüche nur im Hinblick auf das naive Komprehensionsschema, das kein Teil der Mengenlehre Cantors ist. In seiner Mengenlehre sind die Paradoxien Erkenntnisse über zu große Zusammenfassungen, über absolut unendliche oder inkonsistente Vielheiten. Es ist nicht der Fall, dass mit der Eroberung des Unendlichen an allen Ecken und Enden das Chaos hereingebrochen ist. Es herrscht erst dort, so unsere Deutung der Paradoxien, wo wir einen unbeschränkten Teil des Mengenuniversums zu einem begrenzten machen wollen. So wie wir es in der Realität nur mit endlichen, nie mit aktual unendlichen Objekten zu tun haben, so kennt das Cantorsche, platonische Universum der Mathematik nur Mengen als Objekte, und keine absolut unendlichen Vielheiten.
Felix Hausdorff über zu große Zusammenfassungen
„Die Mengenlehre ist das Fundament der gesamten Mathematik; Differential- und Integralrechnung, Analysis und Geometrie arbeiten in Wirklichkeit, wenn auch vielleicht in verschleiernder Ausdrucksweise, beständig mit unendlichen Mengen. Über das Fundament dieses Fundaments, also über eine einwandfreie Grundlegung der Mengenlehre selbst ist eine vollkommene Einigung noch nicht erzielt worden. Die nächstliegenden Schwierigkeiten und Vorurteile dürfen zwar als erledigt gelten: viele anscheinende ‚Paradoxien des Unendlichen‘ sind nur so lange paradox, wie man an der unberechtigten Forderung festhält, dass für endliche und für unendliche Mengen unterschiedslos dieselben Gesetze gelten sollen. Die naturgemäßen Abweichungen zwischen beiden Gebieten bedingen keinen Widerspruch innerhalb des Unendlichen. Dagegen ist eine wirkliche Paradoxie noch nicht befriedigend aufgeklärt, auf die der naive Mengenbegriff, mit seiner Zusammenfassung beliebig vieler Elemente zu einer Menge, letzten Endes hinausführt. In einer typischen Form, die allerdings noch der mathematischen Bestimmtheit entbehrt, lautet dies Paradoxon folgendermaßen: wenn es zu jeder Menge von Dingen noch ein weiteres, von ihnen allen verschiedenes Ding gibt, so ist die Gesamtheit aller Dinge offenbar selbst keine Menge. Ein solches System von Dingen, das nicht als Menge aufgefasst werden kann, bilden, wie wir sehen werden, die (endlichen und unendlichen) Kardinalzahlen oder auch die Ordnungszahlen. Den hiernach notwendigen Versuch, den Prozess der uferlosen Mengenbildung durch geeignete Forderungen einzuschränken, hat E. Zermelo unternommen. Da indessen diese äußerst scharfsinnigen Untersuchungen noch nicht als abgeschlossen gelten können und da eine Einführung des Anfängers in die Mengenlehre auf diesem Wege mit großen Schwierigkeiten verbunden sein dürfte, so wollen wir hier den naiven Mengenbegriff zulassen, dabei aber tatsächlich die Beschränkungen innehalten, die den Weg zu jenem Paradoxon abschneiden.“
(Felix Hausdorff 1914, „Grundzüge der Mengenlehre“ )