Abgeschlossene, in sich dichte und perfekte Mengen

 Das Verhältnis von P′ zu P führt zu drei natürlichen Begriffen:

Definition (abgeschlossene und perfekte Teilmengen von )

Ein P ⊆  heißt:

(i)

abgeschlossen, falls P′ ⊆ P,

(ii)

in sich dicht, falls P ⊆ P′,

(iii)

perfekt, falls P′ = P.

 „Abgeschlossen“ heißt also für eine Menge: Jeder Häufungspunkt der Menge gehört bereits zur Menge.

Cantor (1884b):

„Wenn eine Punktmenge P so beschaffen ist, dass ihre Ableitung P(1) [ = P′ ] in ihr als Divisor [Teilmenge] enthalten ist, oder was dasselbe ist, dass

𝔇(P, P(1))[ = P ∩ P(1) ]  = P(1),

so wollen wir P eine abgeschlossene Menge nennen.“

 „In sich dicht“ bedeutet: Jeder Punkt der Menge lässt sich beliebig gut durch andere Punkte der Menge approximieren, oder anders: es gibt keine isolierten Punkte.

Cantor (1884b):

„Es ist ferner wichtig, den Fall ins Auge zu fassen, dass eine Menge P Divisor ihrer Ableitung P(1) ist oder, was dasselbe ist, dass

𝔇(P, P(1))[ = P ∩ P(1) ]  = P;

unter solchen Umständen wollen wir P eine in sich dichte Menge nennen.“

 Eine Menge ist perfekt, wenn sie abgeschlossen ist und keine isolierten Punkte besitzt. Die abgeschlossenen Intervalle sowie  sind Beispiele für perfekte Mengen. Kompliziertere perfekte Mengen, die keine Intervalle als Teilmengen enthalten, werden wir später diskutieren, wenn wir uns ausführlicher mit der Cantormenge beschäftigen, die uns im ersten Abschnitt schon begegnet ist (1. 9).

Cantor (1883b):

 „ … S dagegen ist so beschaffen, dass bei dieser Punktmenge der Ableitungsprozeß gar keine Änderung hervorbringt, indem

S = S(1)[ = S′ ]

… ist; derartige Mengen S nenne ich perfekte Punktmengen.“

 Der zur Abgeschlossenheit duale Begriff der offenen Menge wurde erst 1902 von Henri Lebesgue (1875 − 1941) eingeführt:

Definition (offene Menge)

Ein Q ⊆  heißt offen, falls  − Q abgeschlossen ist.

 Eine fundamentale Eigenschaft der offenen Mengen ist in der folgenden Charakterisierung gegeben:

Übung

Sei Q ⊆ . Dann sind äquivalent:

(i)

Q ist offen.

(ii)

Für alle a  ∈  Q existiert ein ε > 0 mit Uε(a) ⊆ Q.

mengenlehre1-AbbID44

 Eine offene Menge enthält also um jeden ihrer Punkte eine ε-Umgebung, und die Offenheit einer Menge folgt umgekehrt aus dieser Eigenschaft, die von „abgeschlossen“ und damit vom Begriff der Ableitung keinen Gebrauch mehr macht. Man kann sie zur Definition von „offen“ verwenden, und die abgeschlossenen Mengen dann als die Komplemente der offenen Mengen einführen. In dieser Weise werden die Begriffe in der Topologie der reellen Zahlen heute üblicherweise behandelt.

 Nichtleere offene Mengen enthalten also immer nichtleere offene Intervalle. Wegen |] a, b [| = || für alle a, b  ∈   mit a < b können wir damit die Mächtigkeit offener Mengen sofort angeben:

Satz (Mächtigkeit offener Mengen)

Sei Q ⊆  offen und nichtleer.

Dann gilt |Q| = ||.

 Die möglichen Mächtigkeiten der abgeschlossenen Mengen zu bestimmen ist wesentlich schwieriger. Jede endliche Teilmenge von  sowie  und  selbst sind abgeschlossene Teilmengen der reellen Zahlen. Alle endlichen Mächtigkeiten sowie „abzählbar unendlich“ und „gleichmächtig zu “ sind also mögliche Größen von abgeschlossenen Mengen. Aus dem Satz von Cantor−Bendixson (Kapitel 11) wird folgen, dass die abgeschlossenen Mengen keine weiteren Mächtigkeiten besitzen. Die Kontinuumshypothese gilt also für die offenen und für die abgeschlossenen Mengen: Jede offene oder abgeschlossene Menge ist abzählbar oder gleichmächtig zu .

 Die offenen Mengen sind stabil unter beliebigen Vereinigungen und endlichen Durchschnitten. Für abgeschlossene Mengen gelten die dualen Eigenschaften:

Übung

(i)

Sei 𝒬 ⊆ () und jedes Q  ∈  𝒬 sei offen. Dann ist ⋃ 𝒬 offen. Ist 𝒬 endlich, so ist ⋂ 𝒬 offen.

(ii)

Sei 𝒬 ⊆ () und jedes Q  ∈  𝒬 sei abgeschlossen. Dann ist ⋂ 𝒬 abgeschlossen. Ist 𝒬 endlich, so ist ⋃ 𝒬 abgeschlossen.

 Wir untersuchen nun die Operation der Ableitung genauer. Wir haben gesehen, dass bei der Ableitung einer Punktmenge neue Punkte hinzukommen können. Ist dagegen die Punktmenge selbst die Ableitung einer Punktmenge, so kann die Ableitung die Punktmenge nur noch verkleinern. Anders: Die Ableitung einer Punktmenge ist immer abgeschlossen.

Satz (Abgeschlossenheit der Ableitung)

Sei P ⊆ . Dann ist P′ abgeschlossen.

Beweis

Wir müssen (P′)′ ⊆ P′ zeigen.

Die Idee ist: Ein Häufungspunkt von Häufungspunkten einer Menge P ist selbst ein Häufungspunkt von P.

Sei also a  ∈  (P′)′ beliebig. Sei weiter ε > 0. Wir müssen zeigen:

(+)  Uε(a)  ∩  (P − { a })  ≠  ∅.

mengenlehre1-AbbID45

Wegen a  ∈  (P′)′ existiert ein b  ∈  P′ mit b ≠ a, b  ∈  Uε/2(a).

Sei δ = |b − a|. Dann gilt δ > 0 und Uδ(b) ⊆ Uε(a), a  ∉  Uδ(b). Wegen b  ∈  P′ existiert dann ein c  ∈  P mit c  ∈  Uδ(b). Dann gilt

c  ∈  P,  c  ∈  Uε(a),  c ≠ a.

Dies zeigt (+) und damit a  ∈  P′ für alle a  ∈  (P′)′.

Cantor (1884b):

Jede Menge, welche selbst erste Ableitung einer anderen Menge ist, gehört auch, wie wir wissen, zu den abgeschlossenen Mengen.“

Definition (Abschluss und Inneres einer Punktmenge)

Sei P ⊆ . Wir setzen:

cl(P) =  P ∪ P′, [cl für engl. closure]
int(P) =   − cl( − P). [int für engl. interior]

Die Menge cl(P) heißt der Abschluss von P, int(P) heißt das Innere von P.

Übung

(i)

Für alle P ⊆  ist cl(P) die kleinste abgeschlossene Obermenge von P: cl(P) ist abgeschlossen, und ist Q ⊇ P abgeschlossen, so ist cl(P) ⊆ Q.

(ii)

Für alle P ⊆  ist int(P) die größte offene Teilmenge von P.

Es gilt int(P) = ⋃ { Uε(x) ⊆ P | x  ∈  P, ε > 0 }.

 Wir haben gezeigt, dass P′ immer abgeschlossen ist, d. h. es gilt (P′)′ ⊆ P′ für alle Punktmengen P. Die Ableitung einer Punktmenge ist aber im Allgemeinen nicht perfekt:

Übung

(i)

Konstruieren Sie ein P ⊆  mit (P′)′ ⊂ P′.

(ii)

Ist P in sich dicht, so ist P′ perfekt.

 Im Allgemeinen haben wir also mit der Bildung der Ableitung P′ von P keine lineare Punktmenge erreicht, die perfekt, d. h. stabil gegenüber der Bildung der Ableitung ist; (P′)′ kann eine echte Teilmenge von P′ sein. Es ist nun nur natürlich, die Folge P, P′, P″ = (P′)′, P′′′ = (P″)′, … zu betrachten. Dies führt zu iterierten Ableitungen und damit letztendlich fast zwangsläufig zu den Ordinalzahlen.