Iterierte Ableitungen

Definition (iterierte Ableitung)

Sei P ⊆ . Dann ist P(n), die n-te Ableitung von P, für n  ∈   rekursiv definiert durch:

P(0) =  P ,
P(n + 1) =  (P(n))′  für n  ∈  .
Cantor (1879b):

„Da hiernach die Ableitung einer Punktmenge P wieder eine bestimmte Punktmenge P′ ist, so kann auch von dieser die Ableitung gesucht werden, welche alsdann zweite Ableitung von P genannt und mit P′′ bezeichnet wird; durch eine Fortsetzung dieses Verfahrens erhält man die νte Ableitung von P, welche mit P(ν) bezeichnet wird.“

 Nach dem Satz oben ist es nur für die erste Ableitung P′ = P(1) möglich, keine Teilmenge der zugrunde liegenden Menge zu sein. Alle weiteren Ableitungen sind abgeschlossen und daher gilt

P(1)  ⊇  P(2)  ⊇  P(3)  ⊇  P(4)  ⊇  … 

Cantor (1879b):

„Bemerkenswert ist ferner, dass alle Punkte von P″, P′′′, … auch immer Punkte von P′ sind, während ein zu P′ gehöriger Punkt nicht notwendig auch ein solcher von P ist.“

 Eine natürliche Frage ist:

Terminiert diese Folge immer in einer perfekten Menge, d. h. gibt es für alle P ⊆  immer ein n  ∈   mit der Eigenschaft P(n) = P(n + 1)?

 Die Antwort ist nein:

Übung

Konstruieren Sie ein abgeschlossenes P ⊆  mit

P ⊃ P(1) ⊃ P(2) ⊃ P(3) ⊃ … ,

d. h. P(n + 1) ⊂ P(n) für alle n  ∈  .

 Eine unendliche ⊃-absteigende Kette von iterierten Ableitungen ist also möglich. Andererseits sind alle P(n) abgeschlossene Mengen, falls P abgeschlossen ist. Der Durchschnitt einer solchen absteigenden Kette ist wieder nichtleer und abgeschlossen, falls P beschränkt ist:

Übung

Seien Pn beschränkte, abgeschlossene und nichtleere Teilmengen von  mit Pn + 1 ⊆ Pn für alle n  ∈  . Dann ist ⋂n  ∈   Pn nichtleer und abgeschlossen.

[Für „nichtleer“ wird die Vollständigkeit von  benutzt;  es gilt

sup { inf (Pn) | n  ∈   }  ∈  ⋂n  ∈   Pn.]

Abgeschlossene und beschränkte Teilmengen von  heißen auch kompakt.

 Es kann also weitere nichttriviale Stufen im Ableitungsprozess geben.

Definition

Sei P ⊆ . Dann ist P(ω), die ω-te Ableitung von P, definiert durch

P(ω)  =  ⋂n  ∈   P(n).

Cantor (1880d):

 „ … so wird P′ sich aus zwei wesentlich verschiedenen Punktmengen Q und R zusammensetzen [ P′ = Q ∪ R, Q ∩ R = ∅ ] … Q besteht aus denjenigen Punkten von P′, die bei hinreichendem Fortschreiten in der Folge P′, P″, P′′′, … verloren gehen, die andere R umfasst diejenigen Punkte, welche in allen Gliedern der Folge P′, P″, P′′′, … erhalten bleiben, es ist also R definiert durch die Formel:

R = 𝔇(P′, P″, P′′′, … ).

Wir haben aber auch offenbar:

R = 𝔇(P″, P′′′, PIV, … )

und allgemein:

R = 𝔇(P(n1), P(n2), P(n3), … ),

wo n1, n2, n3, … irgend eine Reihe ins Unendliche wachsender ganzer positiver Zahlen ist.

 Diese aus der Menge P hervorgehende Punktmenge R werde nun durch das Zeichen:

P(∞)

ausgedrückt und Ableitung von P der Ordnung ∞ genannt.“

 Später hat Cantor das Zeichen ω für ∞ benutzt, das eher ein festes Objekt suggeriert, und doch zugleich an das Unendlichkeitssymbol erinnert.

 Haben wir P(ω) gebildet, so können wir weiter die Ableitungen P(ω)′ ⊇ P(ω)′′ ⊇ P(ω)′′′ ⊇ … betrachten. Man kann wieder Mengen P ⊆  konstruieren, für welche alle hierbei auftretenden Inklusionen echt sind. In diesem Fall haben wir also auch in (ω + ω)-vielen Schritten noch keine perfekte Menge im Ableitungsprozess erreicht, also immer noch keinen Index α gefunden für den P(α) = (P(α))′ gilt. Sobald wir ein perfektes P(α) erreichen, wird der weitere Ableitungsprozess trivial, alle folgenden Schritte sind dann identisch mit P(α). Andernfalls fallen bei den weiteren Schritten immer wieder Punkte aus den iterierten Ableitungen heraus. Wir setzen:

P(ω + n) =  (P(ω))(n)  für n  ∈  , und
P(ω + ω) =  (P(ω))(ω)  =  ⋂n  ∈   P(ω + n).

Damit erhalten wir eine Kette:

P(1) ⊇ P(2) ⊇ … P(n) ⊇ … ⊇ P(ω) ⊇ P(ω + 1) ⊇ P(ω + 2) ⊇ … ⊇ P(ω + n) ⊇ … ⊇ P(ω + ω).

Die Inklusionen können wieder echt sein − und es gibt dann weitere nichttriviale Schritte der Ableitung P(ω + ω)′, P(ω + ω)′′, … 

 Hier liegt also wieder eine Situation vor wie in (+) und den drei Beispielen des ersten Kapitels. Alle vier Beispiele verweisen auf die Idee der Ordinalzahlen und zeigen ihre Eigenart, die Stufen solcher transfiniter Prozesse markieren zu können, so wie die natürlichen Zahlen die Stufen gewöhnlicher unendlicher Folgen indizieren. Eine mathematische Umsetzung dieser Idee erscheint nun wünschenswert, denn wir hätten dann eine nicht nur schöne, sondern auch vielseitig einsetzbare Erweiterung der natürlichen Zahlen gewonnen. Transfinite Prozesse tauchen, wie wir gesehen haben, in vielerlei Situationen in natürlicher Weise auf.

 Zur Einführung der Ordinalzahlen kann man sich ein Stück weit mit einer rein symbolischen Bezeichnung der Stufen behelfen, und dabei die vertrauten arithmetischen Operationen verwenden. Cantor hat bereits 1880 solche elementar arithmetischen Stufen angegeben. Statt von transfiniten Zahlen oder Ordnungszahlen spricht er damals noch von Unendlichkeitssymbolen.

Cantor (1880d):

„Die erste Ableitung von P(∞) werde mit P(∞ + 1), die nte Ableitung von P(∞) mit P(∞ + n) bezeichnet; P(∞) wird aber auch eine, im Allgemeinen von O [ ∅ ] verschiedene Ableitung von der Ordnung ∞ haben, wir nennen sie P(2∞). Durch Fortsetzung dieser Begriffskonstruktionen kommt man zu Ableitungen, die konsequenterweise durch:

P(n0 ∞ + n1)

zu bezeichnen sind, wo n0, n1 positive ganze Zahlen sind. Wir kommen aber auch darüber hinaus, indem wir:

𝔇 (P(∞), P(2∞), P(3∞), … )

bilden und dafür das Zeichen P(∞2) festsetzen.

 Hieraus ergibt sich durch Wiederholung derselben Operation und Kombinierung mit den früher gewonnenen der allgemeinere Begriff:

P(n02 + n1 ∞ + n2),

und durch Fortsetzung dieses Verfahrens kommt man zu:

P(n0ν + n1ν − 1 + … + nν),

wo n0, n1, … , nν positive ganze Zahlen sind. Zu weiteren Begriffen gelangt man, indem man ν variabel werden lässt; man setze:

P(∞) = 𝔇 (P(∞), P(∞2), P(∞3), … ).

Durch konsequentes Fortschreiten gewinnt man sukzessive die weiteren Begriffe:

 P(n ∞),  P(∞ ∞ + 1),  P(∞∞ + n),  P(∞ n ∞),  P(∞n),  P(∞ )  u. s. w.;

wir sehen hier eine dialektische Begriffserzeugung*), welche immer weiter führt und dabei frei jeglicher Willkür in sich notwendig und konsequent bleibt … 

[Fußnote] *): Zu derselben bin ich vor nun zehn Jahren gelangt; bei Gelegenheit einer eigentümlichen Darstellung des Zahlbegriffs (Math. Ann. Bd. V) habe ich entfernt darauf hingewiesen.“

 Wir haben die Fußnote hier mitaufgenommen, weil sie zeigt, wie lange völlig neuartige Ideen brauchen können, um klar ins Bewusstsein zu kommen. In der erwähnten Arbeit (1872b) hatte Cantor die reellen Zahlen aus sogenannten Fundamentalfolgen, bestehend aus rationalen Zahlen konstruiert. Durch Iteration dieses Verfahrens gelangt er zu reellen Zahlen immer höherer (endlicher) Art, die dem Wert nach mit den üblichen reellen Zahlen übereinstimmen, von deren Konstruktionsprozess er sich aber Nutzen für die Analysis erhoffte − eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt hat. Ein wirklich transfiniter Prozess findet sich in der Arbeit noch nicht; den Keim zu den Ordinalzahlen trägt sie aber sicherlich in sich, zumal Cantor auch hier schon die Ableitungen P, P′, P″, … betrachtet hat.

 Wir können nun die Reihe (+) aus dem ersten Kapitel ergänzen durch die von Cantor eingeführten „Unendlichkeitssymbole“. Wir schreiben hierbei wie heute üblich ω für ∞ und weiter ω n = ω · n für n ∞.

 Die Reihe lautet dann:

(+)0, 1, 2, … , ω, ω + 1, … , ω · 2 = ω + ω, ω · 2 + 1, … , ω · 3, … , ω · 4, … ,
ω · ω = ω2, ω2 + 1, … , ω2 + ω, … , ω2 · 2, … , ω3, … , ωω, … ., ωωω, … , α, …
Übung

Der Leser überlege sich die in (+) unterdrückten „Limesstellen“, z. B. ω2 + ω 2.

 Wir fragen wieder: Wie groß kann α werden? Wie weit kommt man nach rechts? Die Antwort ist: Wir haben mit obigen durch arithmetische Operationen bezeichneten Ordinalzahlen erst einen winzigen Bruchteil der transfiniten Zahlen kennengelernt! Denn: Wir können immer weiter zählen, und jedem Weg nach rechts einen Limes hinzufügen, so wie wir den natürlichen Zahlen den Limes ω hinzugefügt haben. Solche Erweiterungen werden der Idee der Ordinalzahlen nur gerecht.

 Man muss nun zudem, egal wie weit man die Reihe fortsetzt, schnell aufgeben, die Ordinalzahlen durch arithmetische Operationen oder anderswie konkret zu bezeichnen − wir werden sehen, dass die Ordinalzahlen eine echte Klasse bilden; es gibt ihrer zu viele, um ihnen allen einen Namen geben zu können. Aber so wie man irgendwann mit dem Ausdruck „sei n  ∈  “ etwas anfangen kann, entwickelt man durch Abstraktion und Gewöhnung im Laufe der Zeit ein Gefühl für den Ausdruck „sei α eine Ordinalzahl“.

 Wir brauchen noch eine mathematische Definition von „α ist eine Ordinalzahl“, denn wir wollen die Ordinalzahlen nicht, wie etwa die natürlichen Zahlen, als Grundobjekte behandeln. Wir geben eine solche Definition im Stil von Cantor und Hausdorff in den nächsten Kapiteln, und kommen schließlich zur modernen, allen Maßstäben an Strenge genügenden Definition. Entscheidend ist der Begriff der Wohlordnung, den wir im nächsten Kapitel ausführlich behandeln. Erst mit diesem Begriff gelingt es, alle Elemente der Reihe (+) ein für allemal in einer Definition einzufangen.

 Mit Hilfe der Ordinalzahlen können wir dann auch die hier offen gebliebenen Fragen beantworten:

(1)

Wie viele Ableitungen P(α) braucht man, um von einer Menge P zu einer perfekten Menge zu gelangen, d. h. zu einem P(α) mit P(α) = P(α + 1) ?

(2)

Welche Mächtigkeiten sind für die abgeschlossenen Mengen möglich?

 Zu (1) bemerken wir wieder, dass die Zahlen aus obiger Liste nicht genügen, wovon man sich mit einiger Mühe überzeugen kann.

 Frage (2) ist eine Approximation an das Kontinuumsproblem. Anstatt alle Teilmengen von  zu betrachten, untersucht man interessante Teilmengen von (), und versucht zu zeigen, dass alle ihre Elemente „regulären“, „nicht-pathologischen“ Charakter besitzen. Die einfachsten Beispiele für solche reguläre Teilmengen von () sind die abgeschlossenen und die offenen Mengen. Dieses Programm ist von der deskriptiven Mengenlehre in der Nachfolge Cantors sehr erfolgreich weiterverfolgt worden, und die Ergebnisse dieser Teildisziplin der Mengenlehre bilden ein Gegengewicht zur Unabhängigkeit der Kontinuumshypothese und anderer Aussagen über die reellen Zahlen.

Georg Cantor über die Einführung der transfiniten Zahlen

 „Die bisherige Darstellung meiner Untersuchungen in der Mannigfaltigkeitslehre1) [Fußnote 1  enthält die in 1.1 bei der Diskussion des Platonismus wiedergegebene frühe Mengendefinition Vieles, welches sich als Eines denken lässt.] ist an einen Punkt gelangt, wo ihre Fortführung von einer Erweiterung des realen ganzen Zahlbegriffs [  ] über die bisherigen Grenzen hinaus abhängig wird, und zwar fällt diese Erweiterung in eine Richtung, in welcher sie meines Wissens bisher von Niemandem gesucht worden ist.

 Die Abhängigkeit, in welche ich mich von dieser Ausdehnung des Zahlbegriffs versetzt sehe, ist eine so große, dass es mir ohne letztere kaum möglich sein würde, zwanglos den kleinsten Schritt weiter vorwärts in der Mengenlehre auszuführen; möge in diesem Umstande eine Rechtfertigung oder, wenn nötig, eine Entschuldigung dafür gefunden werden, dass ich scheinbar fremdartige Ideen in meine Betrachtungen einführe. Denn es handelt sich um eine Erweiterung resp. Fortsetzung der realen ganzen Zahlenreihe über das Unendliche hinaus; so gewagt dies auch scheinen möchte, kann ich dennoch nicht nur die Hoffnung, sondern die feste Überzeugung aussprechen, dass diese Erweiterung mit der Zeit als eine durchaus einfache, angemessene, natürliche wird angesehen werden müssen. Dabei verhehle ich mir keineswegs, dass ich mit diesem Unternehmen in einen gewissen Gegensatz zu weitverbreiteten Anschauungen über das mathematische Unendliche und zu häufig vertretenen Ansichten über das Wesen der Zahlgröße mich stelle.

 Was das mathematische Unendliche anbetrifft, soweit es eine berechtigte Verwendung in der Wissenschaft bisher gefunden und zum Nutzen derselben beigetragen hat, so scheint mir dasselbe in erster Linie in der Bedeutung einer veränderlichen, entweder über alle Grenzen hinaus wachsenden oder bis zu beliebiger Kleinheit abnehmenden, aber stets endlich bleibenden Größe aufzutreten. Ich nenne dieses Unendliche das Uneigentlich-Unendliche.

  … Die unendlichen realen ganzen Zahlen, welche ich im Folgenden definieren will und zu denen ich schon vor einer längeren Reihe von Jahren geführt worden bin, ohne dass es mir zum deutlichen Bewusstsein gekommen war, in ihnen konkrete Zahlen von realer Bedeutung zu besitzen …, haben durchaus nichts gemein mit dem … Uneigentlich-Unendlichen, dagegen ist ihnen derselbe Charakter der Bestimmtheit eigen, wie wir ihn bei dem unendlich fernen Punkte in der analytischen Funktionentheorie antreffen; sie gehören also zu den Formen und Affektionen des Eigentlich-Unendlichen … “

(Georg Cantor 1883b, „Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten (V )“ )