3. Wohlordnungen
Unsere vier Beispiele führten uns zu einer Reihe der Form:
(+) | 0, 1, 2, 3, … , ω, ω + 1, ω + 2, ω + 3, … , … , … , α, … , … , … |
Wir konnten diese Reihe nur ein Stück weit „von unten“ beschreiben. Die Aufgabe ist nun, auf einen Schlag alle transfiniten Zahlen α zu definieren! Diesem Ziel nähern wir uns in mehreren Schritten. Und erst in Kapitel 6 gelangen wir schließlich zu einer Definition der Ordinalzahlen, werden dann aber bereits alle wesentlichen Resultate über die Struktur der Reihe (+) zur Verfügung haben.
Unsere Intuition bringt noch keine konkreten Vorstellungen über die Natur der in der Reihe vorkommenden Objekte α mit sich, von einem Anfangsstück abgesehen, das wir mit den natürlichen Zahlen, dem neuen Zeichen ω und arithmetischen Ausdrücken wie ω + 1, ω + ω, usw. bilden können. Liegen nun die Stufen α der Reihe als Ganzes weitgehend im Nebel, so ist doch das Wandern auf ihnen beschreibbar: Wir besitzen eine gute Intuition über den Verlauf der Reihe, das Wesen der ihr innewohnenden Ordnung, und wir versuchen nun zunächst, die charakteristischen Eigenschaften dieser Ordnung herauszufinden.
(W1) | Je zwei verschiedene Elemente α und α′ der Reihe sind vergleichbar in dem Sinne, dass α vor α′ oder aber α′ vor α in der Reihe erscheint. Wir schreiben α < α′, falls α vor α′ in der Reihe erscheint. |
(W2) | Die Reihe hat ein erstes Element, das wir mit 0 bezeichnen. |
(W3) | Jedes α hat einen eindeutigen Nachfolger β, den wir auch durch α + 1 bezeichnen. Wir können den Nachfolger β von α auch so charakterisieren: |
β = „das kleinste Element β′ der Reihe, für das α < β′ gilt“. | |
α + 1 schließt unmittelbar an α an: | |
0, 1, … , … , … , α, α + 1, … , … , … | |
(W4) | Jedes Anfangsstück A der Reihe hat einen eindeutigen Nachfolger β = β(A). Dieses β ist charakterisiert durch: |
β = „das kleinste Element β′ der Reihe für das gilt: α < β′ für alle α ∈ A “. | |
β(A) schließt unmittelbar an A an: | |
−−− Anfangsstück A −−−, β(A), … , … , … | |
Ist z. B. A = { 0, 1, 2, … } = ℕ, so ist β(A) = ω. Ist A = { 0, 1, 2, … , ω, … , α } , so ist β(A) = α + 1. |
Diese vier Eigenschaften sind entscheidend! Mit ihrer Hilfe können wir zwar noch keine unmittelbare Definition der Ordinalzahlen selbst geben, jedoch gewinnen wir aus ihnen eine Form, in die genau die Wegstrecken hineinpassen, auf denen ein transfiniter Prozess abläuft. Cantor hat für diese Form den Begriff der Wohlordnung geprägt. Die Idee ist, dass Wohlordnungen genau wie Anfangsstücke der Reihe (+) aussehen, wenn man von den Namen der verwendeten Objekte, etwa
0, 1, 2, … , ω, usw.
absieht, und nur noch die unter ihnen herrschende Ordnung betrachtet. Verstehen wir den Verlauf von Anfangsstücken der Reihe (+), also ihre Struktur bis zu einer gedachten Stelle α, so wird es leichter möglich sein, die Stelle α selbst, die Ordinalzahl α, als Objekt zu definieren.
Die Form der Wohlordnung besteht aus vier Bedingungen, die nur dahingehend von (W1) − (W4) abweichen, dass Anfangsstücke der Reihe (+) irgendwann eine Ende haben, im Gegensatz zur gesamten Reihe selbst. Cantor definiert Wohlordnungen wie folgt.
Cantor (1883b):
„Ein anderer großer, den neuen Zahlen zuzuschreibender Gewinn besteht für mich in einem neuen, bisher noch nicht vorgekommenen Begriffe der Anzahl der Elemente einer wohlgeordneten unendlichen Mannigfaltigkeit …
Unter einer wohlgeordneten Menge ist jede wohldefinierte Menge zu verstehen, bei welcher die Elemente durch eine bestimmt vorgegebene Sukzession mit einander verbunden sind [ (W1) ], welcher gemäß es ein erstes Element der Menge gibt [ (W2) ] und sowohl auf jedes einzelne Element (falls es nicht das letzte in der Sukzession ist) ein bestimmtes anderes folgt [ (W3′) ], wie auch zu jeder beliebigen endlichen oder unendlichen Menge von Elementen ein bestimmtes Element gehört, welches das ihnen allen nächst folgende Element in der Sukzession ist (es sei denn, dass es ein ihnen allen in der Sukzession folgendes überhaupt nicht gibt) [ (W4′) ].“
Diese Definition gibt die zugrunde liegenden Ordnungseigenschaften am direktesten wieder. Sie ist aber etwas schwerfällig, und es gibt eine griffigere äquivalente Umformulierung.
Zunächst formulieren wir die Bedingung (W1) genauer.
Definition (lineare Ordnung)
Sei M eine Menge, und sei < ⊆ M × M eine zweistellige Relation auf M.
< heißt eine lineare Ordnung auf M, falls für alle a, b, c ∈ M gilt:
(i) | non(a < a), | (Irreflexivität von <) |
(ii) | a < b und b < c folgt a < c, | (Transitivität von <) |
(iii) | a < b oder a = b oder b < a. | (Linearität von <) |
Verbunden mit diesem zentralen Begriff sind einige Schreib- und Sprechweisen, die den Umgang mit linearen Ordnungen erleichtern. Ihre Einführung ist katalogartig und etwas langatmig, zumal sich die meisten Dinge fast von selbst verstehen.
(1) | Wir schreiben wie üblich a < b für (a, b) ∈ <. Weiter schreiben wir a ≤ b für „a < b oder a = b“. |
(2) | Ist X ⊆ M und s ∈ M, so bedeutet X < s, dass x < s für alle x ∈ X gilt. Analog sind X ≤ s, s < X, s ≤ X definiert. s heißt <-kleinstes Element der Ordnung, falls s ≤ M. Analog ist <-größtes Element definiert. |
(3) | Ist < eine lineare Ordnung auf M, so nennen wir auch das Paar (M, <) eine lineare Ordnung. Wir verwenden auch die Schreibweise 〈 M, < 〉 für (M, <), und nennen 〈 M, < 〉 eine (Ordnungs-) Struktur. Die Menge M heißt der Träger der Ordnung 〈 M, < 〉. |
(4) | Wir notieren lineare Ordnungen 〈 M, <M 〉, 〈 N, <N 〉 oft einfach als 〈 M, < 〉 und 〈 N, < 〉, wobei die beiden <-Relationen i. A. nichts miteinander zu tun haben. Diese ungefährliche Konvention erleichtert die Lesbarkeit. (Cantor hat die Erwähnung der Ordnungen oft ganz unterdrückt.) |
(5) | Ist 〈 M, < 〉 eine lineare Ordnung und N ⊆ M, so sei <|N = < ∩ (N × N) die Einschränkung der Ordnung auf N. Dann ist 〈 N, <|N 〉 eine lineare Ordnung. Wir schreiben für derartige Ordnungen auch kurz 〈 N, < 〉, und meinen mit < dann die Einschränkung von < auf N. |
Beispiele für lineare Ordnung sind 〈 ℕ, < 〉, 〈 ℤ, < 〉, 〈 ℚ, < 〉, 〈 ℝ, < 〉 mit den üblichen Ordnungen. 〈 ∅, ∅ 〉 ist die triviale lineare Ordnung, und für jedes Objekt x ist 〈 { x } , ∅ 〉 eine lineare Ordnung mit einem einelementigen Träger.
Cantor (1895):
„Eine Menge M nennen wir ‚einfach geordnet‘ [linear geordnet], wenn unter ihren Elementen m eine bestimmte ‚Rangordnung‘ herrscht, in welcher von je zwei beliebigen Elementen m1 und m2 das eine den ‚niedrigeren‘, das andere den ‚höheren‘ Rang einnimmt, und zwar so, dass wenn von drei Elementen m1, m2 und m3 etwa m1 dem Range nach niedriger ist als m2, dieses niedriger als m3, alsdann auch immer m1 niedrigeren Rang hat als m3.
Die Beziehung zweier Elemente m1 und m2, bei welcher m1 den niedrigeren, m2 den höheren Rang in der gegebenen Rangordnung hat, soll durch die Formeln ausgedrückt werden
(1) m1 ≺ m2, m2 ≻ m1.“
Übung
Sei M eine Menge, und sei < = ⊂|M = ⊂ ∩ M × M, also
a < b gdw a, b ∈ ℘(M) und a ⊂ b.
Dann ist < irreflexiv und transitiv auf M, aber i. A. nicht linear.
Man nennt irreflexive und transitive Relationen < ⊆ M × M partielle Ordnungen auf M. Lineare und allgemeiner partielle Ordnungen spielen in der Mengenlehre eine große Rolle und haben eine reiche Theorie. In den „Grundzügen der Mengenlehre“ von Hausdorff (1914) werden Ordnungen bereits sehr ausführlich und allgemein untersucht (Kapitel 4 − 6). Hier interessieren uns zunächst nur die Ordnungen, die zu den Ordinalzahlen führen, und später dann die Ordnungen der rationalen und der reellen Zahlen.
Damit ist die Bedingung (W1) scharf gefasst. Die drei übrigen Bedingungen können wir nun zu einer einzigen Bedingung verschmelzen: Der Nachfolger eines Elementes oder einer Teilmenge ist jeweils das Minimum aller größeren Elemente, und das erste Element ist das Minimum der ganzen Ordnung. Entscheidend ist die Existenz dieses Minimums für jede nichtleere Teilmenge − eine vertraute Eigenschaft, wenn man an die natürlichen Zahlen denkt.
Definition (Wohlordnung; zweite Fundamentaldefinition der Mengenlehre)
Sei 〈 M, < 〉 eine lineare Ordnung.
〈 M, < 〉 heißt eine Wohlordnung auf M, falls jede nichtleere Teilmenge M′ von M ein <-kleinstes Element besitzt, d. h. es gibt ein m ∈ M mit:
(i) | m ∈ M′, |
(ii) | m ≤ x für alle x ∈ M′. |
Die Forderung m ∈ M′ ist wesentlich. Die reellen Zahlen 〈 ℝ, < 〉 sind z. B. keine Wohlordnung: Für M′ = { 1/n | n ∈ ℕ, n > 0 } ⊆ ℝ existiert 0 = inf (M′) in ℝ, aber es ist 0 ∉ M′; M′ hat kein <-kleinstes Element.
Nichtleere Teilmengen von Wohlordnungen haben i. A. kein größtes Element: ℕ ⊆ M hat kein größtes Element in M = { 0, 1, 2, … , ω } , versehen mit der natürlichen Ordnung.
Die triviale Struktur 〈 ∅, ∅ 〉 ist nach dieser Definition eine Wohlordnung, eine Konvention, die vielfach nützlich ist, und dem Status der 0 als natürlicher Zahl entspricht. Für jedes n ∈ ℕ ist
〈 n, < 〉 = 〈 { 0, 1, … , n − 1} , < 〉
eine Wohlordnung mit der üblichen <-Relation. Weiter ist z. B. die im ersten Kapitel betrachtete Teilmenge M = { 0 } ∪ { n − 1/k | n, k ∈ ℕ, n ≥ 1, k ≥ 2 } der reellen Zahlen wohlgeordnet unter der üblichen Ordnung auf ℝ.
Die so definierten Wohlordnungen sind nun in der Tat genau die linearen Ordnungen, welche die von Cantor genannten Bedingungen erfüllen − wobei wir hier die leere Menge als wohlgeordnet ansehen, und daher auch die Bedingung der Existenz eines kleinsten Elementes modifizieren müssen:
Übung
Zeigen Sie, dass die Wohlordnungen genau die Wohlordnungen im Sinne der Definition von Cantor sind. Zu zeigen ist also, dass die Aussagen (A) und (B) äquivalent sind, wobei:
(A) | < ist eine Wohlordnung auf M (nach obiger Definition). |
(B) | (W1) | < ist eine lineare Ordnung auf M. |
(W2′) | Ist M ≠ ∅, so existiert ein <-kleinstes Element von M. | |
(W3′) | Ist α ∈ M und existiert überhaupt ein β ∈ M mit α < β, so existiert ein <-kleinstes β mit α < β. | |
(W4′) | Ist A ⊆ M und existiert überhaupt ein β ∈ M mit A < β, so existiert ein <-kleinstes β = β(A) ∈ M mit A < β. |
Cantor (1897):
„A. ‚Jede [nichtleere] Teilmenge F1 einer [nach Cantors Definition (W1) − (W4′)] wohlgeordneten Menge F hat ein niederstes Element.‘ …
B. ‚Ist eine einfach [linear] geordnete Menge F so beschaffen, dass sowohl F, wie auch jede ihrer [nichtleeren] Teilmengen ein niederstes Element hat, so ist F eine wohlgeordnete Menge.‘“
Damit ist das Fundament der transfiniten Prozesse ausgegraben. Sie verlaufen entlang Wohlordnungen, also linearen Ordnungen, in denen nichtleere Teilmengen immer ein kleinstes Element aufweisen. Der Verlauf eines solchen Prozesses entlang einer Wohlordnung ist in der Cantorschen Definition besonders anschaulich. Die Elemente der Wohlordnung markieren die Stufen des Prozesses.
In Wohlordnungen zerfallen die Elemente in zwei Typen, je nachdem, ob ein unmittelbares Vorgängerelement existiert oder nicht. Zudem hat das erste Element der Wohlordnung eine besondere Stellung.
Definition (Nachfolgerelement und Limeselement einer Wohlordnung)
Sei 〈 M, < 〉 eine Wohlordnung und sei x ∈ M. x heißt:
(i) | Anfangselement von 〈 M, < 〉, falls x das <-kleinste Element von M ist. |
(ii) | Nachfolgerelement von 〈 M, < 〉, falls ein y ∈ M existiert mit x = „das <-kleinste x′ ∈ M mit y < x′“. Wir schreiben x = y + 1 und y = x − 1 in diesem Fall. x heißt dann der Nachfolger von y, y der Vorgänger von x in 〈 M, < 〉. |
(iii) | Limeselement von 〈 M, < 〉, falls x kein Nachfolgerelement und nicht das Anfangselement von 〈 M, < 〉 ist. |