6.Ordinalzahlen

Wir haben gezeigt, dass je zwei Wohlordnungen ihrer Länge nach vergleichbar sind. Die Idee der Cantorschen Ordinalzahlen ist nun, Wohlordnungen nur auf ihre Länge hin zu betrachten und dabei von der Natur des Trägers der Ordnung ganz abzusehen. Cantor definiert Ordinalzahlen wie folgt:

Cantor (1897):

„§ 14. Die Ordnungszahlen wohlgeordneter Mengen.

 Nach § 7 hat jede einfach [linear] geordnete Menge M einen bestimmten Ordnungstypus M; es ist dies der Allgemeinbegriff, welcher sich aus M ergibt, wenn unter Festhaltung der Rangordnung ihrer Elemente von der Beschaffenheit der letzteren abstrahiert wird, so dass aus ihnen lauter Einsen werden, die in einem bestimmten Rangverhältnis zu einander stehen. Allen einander ähnlichen Mengen, und nur solchen, kommt ein und derselbe Ordnungstypus zu.

 Den Ordnungstypus einer wohlgeordneten Menge F nennen wir die ihr zukommende ‚Ordnungszahl‘.

 Das Einsetzen der Einsen veranschaulicht sehr gut den Prozess der Abstraktion von den Trägerelementen, und entspricht recht genau den Skizzen von Wohlordnungen, die wir auf das Papier malen: Die Elemente der Wohlordnungen solcher Diagramme sind meistens ununterscheidbare Punkte:

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 Wer aber an die heute übliche, durch die Sprache der Mengenlehre mitbegründete Genauigkeit der Definitionen mathematischer Objekte gewöhnt ist, für den haftet wahrscheinlich einer Begriffsbildung dieser Art ein etwas fader Beigeschmack an.

 Wir haben das gleiche Problem wie früher mit dem Begriff der Mächtigkeit vor uns: Es ist einfach, „gleichmächtig“ und „kleiner“ bzw. „gleichlang“ und „kürzer“ relational für zwei Mengen bzw. Wohlordnungen zu definieren. Von der „Mächtigkeit“ einer Menge oder der „Länge“ einer Wohlordnung schlechthin zu sprechen, ist schwieriger.

 Die „universalen“ rein extensionalen Definitionen:

Mächtigkeit(M) =  { N | N und M sind gleichmächtig } ,
Länge(〈 M, < 〉) =  { 〈 N, < 〉 | 〈 N, < 〉 und 〈 M, < 〉 sind gleichlang } ,

sind ungeeignet, da die Zusammenfassungen für M ≠ 0 zu groß sind, um noch Mengen sein zu können; es sind echte Klassen im Sinne der Diskussion in 1.13.

 In der axiomatischen Mengenlehre kann eine Modifikation dieser Definitionen durchgeführt werden: Man kann die echten Klassen Mächtigkeit(M) und Länge(〈 M, < 〉) mit Hilfe eines Rangbegriffs uniform zu Mengen zurechtstutzen.

 Die Cantorsche Definition zeigt, dass Cantor keineswegs mit „universale“ oder „Allgemeinbegriff“ obige Klassendefinition im Auge hatte. Durch Abstraktion entsteht ein gewisses Objekt aus Einsen, das nicht mehr der rein extensionalen Mengenwelt angehört. Wesentlich ist, dass die Abstraktion angewendet auf zwei Wohlordnungen genau dann das gleiche Objekt erzeugt, wenn die beiden Wohlordnungen gleichlang sind. Diese Eigenschaft ist es, die zählt, und die für mathematische Argumente relevant ist. (Der Leser vergleiche die Definition des geordneten Paares in 1.3 und ihre fundamentale Eigenschaft (#).)

 Hausdorff sieht von Cantors Abstraktion ab. Er nimmt wie schon für Kardinalzahlen einen „formalen Standpunkt“ ein und sieht Ordinalzahlen als Zeichen an. Allgemein definiert er für lineare Ordnungen:

Hausdorff (1914):

„Das den ähnlichen Mengen [ordnungsisomorphen linearen Ordnungen] Gemeinsame bezeichnen wir als Ordnungstypus, wie wir das den äquivalenten [gleichmächtigen] Mengen Gemeinsame als Mächtigkeit bezeichneten. Wir ordnen nämlich jeder [linear geordneten] Menge A ein Zeichen α zu, derart, dass ähnlichen Mengen und nur solchen dasselbe Zeichen entspricht, dass also mit A ≃ B [ 〈 A, < 〉 ≡  〈 B, < 〉 ] zugleich α = β und umgekehrt mit α = β zugleich A ≃ B ist. Dieses Zeichen α heißt der Ordnungstypus (oder Typus) der Menge A.“

Ordinalzahlen definiert Hausdorff als die Ordnungstypen von Wohlordnungen.

 So unterschiedlich die philosophischen und pragmatischen Anteile der Definitionen von Cantor und Hausdorff sein mögen, so identisch erweisen sie sich für die mathematische Praxis. Sie sind streng genommen keine Figuren auf unserer Bühne, aber man kann hervorragend mit ihnen kommunizieren. Wie im Fall der Kardinalzahlen sind Ordinalzahlen prinzipiell aus Resultaten eliminierbar − was nie gemacht wird, aber garantiert, dass wir korrekte Ergebnisse auch dann erzielen, wenn wir eine naive Definition zugrundelegen.

 Wir arbeiten zunächst mit einer Definition nach Cantor, oder, mathematisch gleichwertig, nach Hausdorff. Wir gelangen dabei auf ganz natürlichem Weg zur heute üblichen Definition einer Ordinalzahl nach von Neumann und Zermelo, der keinerlei Vagheiten mehr anhaften, und die dann auch einen Schleifstein für den noch unscharfen Kardinalzahlbegriff im Gepäck hat. Die moderne Definition hat ohne Vorbereitung einen ad-hoc-Charakter, nach einer experimentellen Phase mit Cantor-Hausdorffschen Ordinalzahlen erscheint sie zwingend.

 Die ideelle Zuordnung von Ordnungstypen werden wir aber bei der Diskussion allgemeiner linearer Ordnungen erneut verwenden, wo sie wieder, wenn man so will, einfach als eine bequeme Sprechweise aufgefasst werden kann. Hier bleibt auch der axiomatischen Mengenlehre nur die Idee des Zurückschneidens durch Rangbetrachtungen. Die modernen Ordinalzahlen sind kanonische und definierbare Vertreter für alle Isomorphieklassen bestehend aus Wohlordnungen. Derartige Vertreter konnten allgemein für lineare Ordnungen nicht gefunden werden.