Die moderne Definition einer Ordinalzahl
Das Ziel ist, in jeder Klasse gleichlanger Wohlordnungen einen ausgezeichneten Repräsentanten zu finden. Dies gelingt nun überraschend leicht, wenn man sich von der Idee leiten lässt, die Menge W(α) = { β | β < α } mit der Ordinalzahl α selbst zu identifizieren, dass also eine Ordinalzahl nichts anderes ist als die Menge ihrer Vorgänger. Die sich aus dem Postulat „W(α) = α!“ ergebende Definition der Ordinalzahlen stammt von John von Neumann (1923) und davon unabhängig von Ernst Zermelo.
Für diese Definition der Ordinalzahlen entwickeln wir die Theorie der Wohlordnungen wie in Kapitel 3 und 4. (Der Wohlordnungssatz wird, wie für die Cantorsche Definition, nicht benötigt.) Nun setzen wir:
Definition (Ordinalzahlen nach von Neumann und Zermelo)
Eine Menge α heißt eine (Neumann-Zermelo-) Ordinalzahl, falls eine Wohlordnung < auf α existiert mit:
(◇) Für alle β ∈ α ist β = { γ ∈ α | γ < β }.
〈 α, < 〉 heißt dann eine ordinale Wohlordnung von α.
Zur Verwendung von griechischen Buchstaben: Wir zeigen gleich, dass alle Elemente einer Ordinalzahl wieder Ordinalzahlen sind.
Schreiben wir wieder kurz αβ für das durch β ∈ α bestimmte Anfangsstück von 〈 α, < 〉, d. h. αβ = { γ ∈ α | γ < β } , so lautet (◇) einfach:
(◇) β = αβ für alle β ∈ α.
Unmittelbar aus der Definition fließen einige wichtige Eigenschaften der Ordinalzahlen:
Satz (elementare Eigenschaften von Ordinalzahlen)
Sei α eine Ordinalzahl, und sei 〈 α, < 〉 eine ordinale Wohlordnung von α. Dann gilt:
(i) | Für alle β, γ ∈ α gilt: γ < β gdw γ ∈ β gdw γ ⊂ β. |
(ii) | Ist β ∈ α, so ist β ⊆ α. |
(iii) | Ist β ∈ α, so ist β eine Ordinalzahl. |
Beweis
zu (i): Seien β, γ ∈ α. Es gilt: γ < β gdw γ ∈ αβ gdw γ ∈ β. Weiter gilt:
γ < β gdw αγ ⊂ αβ gdw γ ⊂ β.
zu (ii): Sei β ∈ α. Dann gilt β = αβ ⊆ α.
zu (iii): Sei β ∈ α, und sei <β = { (α1, α2) | α1, α2 ∈ α, α1 < α2 < β, }. Wir zeigen, dass 〈 β, <β 〉 eine ordinale Wohlordnung ist. 〈 β, <β 〉 ist eine Wohlordnung wegen β ⊆ α. Sei nun γ ∈ β. Dann gilt
βγ = { δ ∈ β | δ <β γ } = β ∩ αγ = β ∩ γ = γ,
letzteres wegen γ ⊆ β nach (i).
Ordinalzahlen bestehen also ausschließlich aus Ordinalzahlen!
Weiter gilt nach (i): Eine zu einer Ordinalzahl α gehörige ordinale Wohlordnung ist eindeutig bestimmt: Sind 〈 α, <1 〉 und 〈 α, <2 〉 ordinale Wohlordnungen, so gilt <1 = <2. Ist α eine Ordinalzahl, so werden die Ordinalzahlen, die kleiner als α sind, sowohl durch die ∈ -Relation auf α als auch durch die ⊂-Relation auf α wohlgeordnet − und beide Relationen ergeben die gleiche Wohlordnung.
Eigenschaft (ii) spielt in der Mengenlehre an verschiedenen Stellen eine wichtige Rolle, und hat deswegen einen eigenen Namen:
Definition (transitiv)
Sei M eine Menge. M heißt transitiv, falls für alle x ∈ M gilt x ⊆ M.
Transitivität sollte jedem vernünftigen Modell M der Mengenlehre zukommen: Ist x ein Element des Modells, so bedeutet x ⊆ M, dass jedes Element von x ein Objekt des Modells ist.
Übung
Sei M eine Menge. Dann gilt: M ist transitiv gdw ⋃ M ⊆ M gdw M ⊆ ℘(M).
Ordinalzahlen sind nun charakterisiert durch die Bedingungen „transitiv“ und „durch ∈ wohlgeordnet“, was manchmal auch zur Definition von Ordinalzahl benutzt wird:
Satz (Charakterisierung der Ordinalzahlen)
Sei α eine Menge. Dann sind äquivalent:
(i) | α ist eine Ordinalzahl. |
(ii) | α ist transitiv und wird durch ∈ wohlgeordnet, d. h. 〈 α, ∈ |α 〉 = 〈 α, { (β, γ) ∈ α × α | β ∈ γ } 〉 ist eine Wohlordnung. |
Beweis
(i) ↷ (ii): Folgt aus dem Satz oben.
(ii) ↷ (i): Sei β ∈ α. Wegen α transitiv ist dann β ⊆ α, und es gilt
αβ = { γ ∈ α | γ < β } = { γ ∈ α | γ ∈ β } = α ∩ β = β.
Als Nächstes zeigen wir, dass gleichlange ordinale Wohlordnungen zusammenfallen:
Satz (Eindeutigkeitssatz)
Seien α, β Ordinalzahlen. Weiter seien die zugehörigen ordinalen Wohlordnungen 〈 α, < 〉 und 〈 β, < 〉 gleichlang. Dann gilt α = β.
Beweis
Sei f : α → β ordnungsisomorph. Annahme f ≠ idα. Dann existiert ein kleinstes γ ∈ α mit f (γ) ≠ γ. Nach minimaler Wahl von γ ist dann
αγ = βf (γ)
und folglich γ = f (γ), da α, β Ordinalzahlen sind. Widerspruch!
Wir definieren nun die Ordnung auf den Ordinalzahlen:
Definition (die ∈ -Ordnung auf den Ordinalzahlen)
Seien α, β Ordinalzahlen. Wir setzen:
α < β falls α ∈ β.
Für alle Ordinalzahlen α gilt also
α = { β | β ∈ α } = { β | β ∈ α und β ist Ordinalzahl } = { β | β < α }.
Satz
Die Ordinalzahlen werden durch < wohlgeordnet.
Beweis
< ist irreflexiv:
Annahme α < α für eine Ordinalzahl α. Dann gilt α ∈ α, also existiert ein β ∈ α mit β ∈ β (α ist ein solches β). Aber ∈ ist eine Wohlordnung auf α, und damit insbesondere irreflexiv. Widerspruch!
< ist transitiv:
Seien α, β, γ Ordinalzahlen mit α < β und β < γ. Dann gilt α ∈ β ∈ γ. Wegen γ transitiv ist dann α ∈ γ, also α < γ.
< ist linear:
Seien α, β Ordinalzahlen. Sind 〈 α, < 〉 und 〈 β, < 〉 gleichlang, so gilt α = β nach dem Satz oben. Ist 〈 α, < 〉 kürzer als 〈 β, < 〉, so existiert ein γ ∈ β derart, dass 〈 α, < 〉 und 〈 γ, < 〉 gleichlang sind, und dann gilt α = γ, also α ∈ β. Analog folgt β ∈ α, falls 〈 β, < 〉 kürzer als 〈 α, < 〉 ist.
Wohlordnungseigenschaft:
Sei A eine nichtleere Menge von Ordinalzahlen, und sei α ∈ A. Ist α kleinstes Element von A, so sind wir fertig. Andernfalls ist α ∩ A nichtleer. Sei also β das kleinste Element von α ∩ A in der Wohlordnung 〈 α, < 〉. Dann ist β das kleinste Element von A: Denn für alle γ ∈ α ∩ A ist β ≤ γ nach Wahl von β, und für γ ∈ A − α ist α ≤ γ, also β < α ≤ γ.
Elementare Fakten über < sind:
Übung
(i) | Für jede Ordinalzahl α ist α ∪ { α } die kleinste Ordinalzahl, die größer ist als α. |
(ii) | Ist A eine Menge von Ordinalzahlen, so ist σ = ⋃ A eine Ordinalzahl. Weiter ist ⋃ A das kleinste α mit A ≤ α. |
(iii) | Ist A eine nichtleere Menge von Ordinalzahlen, so ist τ = ⋂ A das Minimum von A, d. h. τ ∈ A und τ ≤ A. |
Hieraus ergeben sich die folgenden Definitionen:
Definition (Nachfolger einer Ordinalzahl)
Sei α eine Ordinalzahl. Dann ist der Nachfolger α + 1 von α definiert durch:
α + 1 = α ∪ { α }.
Definition (Nachfolgerordinalzahlen und Limesordinalzahlen)
Sei α eine Ordinalzahl.
(i) | α heißt Nachfolgerordinalzahl, falls α = β + 1 für eine Ordinalzahl β. In diesem Fall heißt β der Vorgänger von α, in Zeichen β = α − 1. |
(ii) | α heißt Limesordinalzahl, falls α ≠ 0 und α keine Nachfolgerordinalzahl ist. |
In einigen Texten wird auch ∅ als Limesordinalzahl angesehen, sodass jede Ordinalzahl Nachfolger oder Limes ist.
Definition (Supremum einer Menge von Ordinalzahlen)
Sei A eine Menge von Ordinalzahlen. Dann ist das Supremum von A, in Zeichen sup(A), definiert durch:
sup(A) = ⋃ A.
Wieder gilt sup(∅) = ∅.
Übung
Sei α ≠ ∅ eine Ordinalzahl. Dann sind äquivalent:
(i) | α ist eine Limesordinalzahl, |
(ii) | ⋃ α = α, |
(iii) | β + 1 ∈ α für alle β < α. |
Wir können uns damit einen Überblick über die ersten Ordinalzahlen verschaffen: Der Nachfolger α + 1 von α ist α ∪ { α } , und das Supremum einer Menge von Ordinalzahlen wird einfach durch die Vereinigung über die Menge gegeben. Bezeichnen wir die ersten Ordinalzahlen wieder mit natürlichen Zahlen, so ergibt sich:
Ostern à la von Neumann
0 = ∅,
1 = 0 ∪ { 0 } = { ∅ } = { 0 } ,
2 = 1 ∪ { 1 } = { ∅, { ∅ } } = { 0, 1 } ,
3 = 2 ∪ { 2 } = { ∅, { ∅ } , { ∅, { ∅ } } } = { 0, 1, 2 } ,
…
n + 1 = n ∪ { n } = { 0, 1, … , n } ,
…
ω = ℕ = { 0, 1, 2, … } ,
ω + 1 = ω ∪ { ω } = { 0, 1, 2, … , ω }.
…
ω + ω = { 0, 1, 2, … , ω, ω + 1, ω + 2, … }.
…
Lösen wir die Elemente einer Ordinalzahl immer weiter auf, so sehen wir, dass alle Ordinalzahlen letztendlich aus der leeren Menge aufgebaut sind. Es zeigt sich darüber hinaus, dass man zur Definition der Ordinalzahlen keinerlei Zahlen als Grundobjekte benötigt. Man kann also, wenn man möchte, die natürlichen Zahlen definieren als die Menge aller Ordinalzahlen, die kleiner sind als die erste Limesordinalzahl, ω genannt, und dadurch wird dann ℕ = ω. In der axiomatischen Mengenlehre, die keine Grundobjekte zulässt, ist diese Vorgehensweise üblich. Man zeigt aus den Axiomen die Existenz einer Limesordinalzahl, und definiert dann die kleinste Limesordinalzahl als die Menge der natürlichen Zahlen.
Es bleibt nun noch die Frage zu klären, ob der Begriff der Ordinalzahlen reichhaltig genug ist, um für jede Wohlordnung einen Repräsentanten gleicher Länge zur Verfügung zu stellen. Man sieht leicht, dass die Ordinalzahlen dies auf jeden Fall für einen Anfangsbereich der Wohlordnungen leisten, d. h. bis zu einer bestimmten Länge gibt es auf jeden Fall ordinale Repräsentanten: Denn sind 〈 M, < 〉 und 〈 α, < 〉 gleichlang, so existiert für alle Wohlordnungen 〈 N, < 〉, die kürzer als 〈 M, < 〉 sind, ein Anfangsstück 〈 αβ, < 〉 von 〈 α, < 〉, das gleichlang mit 〈 N, < 〉 ist. Aber wegen αβ = β existiert dann also sogar eine ordinale Wohlordnung der Länge von 〈 N, < 〉. Die Annahme, dass eine Wohlordnung 〈 M, < 〉 in ihrer Länge über alle Ordinalzahlen hinausragt, führt aber zu einem Widerspruch. Den Beweis gibt der folgende Repräsentationssatz für Neumann-Zermelo-Ordinalzahlen. (Für die Definition nach Cantor und Hausdorff gilt der Satz automatisch.)
Satz (Repräsentationssatz)
Zu jeder Wohlordnung 〈 M, < 〉 existiert eine eindeutige Ordinalzahl α mit:
〈 M, < 〉 und 〈 α, < 〉 sind gleichlang.
Beweis
zur Eindeutigkeit: Dies folgt aus dem Eindeutigkeitssatz oben.
zur Existenz: Annahme nicht für eine Wohlordnung 〈 M, < 〉. Wir setzen
M′ = { x ∈ M | es existiert eine Ordinalzahl α mit 〈 Mx, < 〉 ≡ 〈 α, < 〉 }.
Für x ∈ M′ sei f (x) die eindeutige Ordinalzahl α mit 〈 Mx, < 〉 ≡ 〈 α, < 〉. Dann ist f : M′ → rng(f) bijektiv. Sei A = rng(f). Dann ist A eine Menge von Ordinalzahlen und es gilt:
(+) Jede Ordinalzahl α ist ein Element von A.
Beweis von (+)
Denn ist α ∉ A = rng(f), so gilt nach dem Vergleichbarkeitssatz und der Annahme, dass 〈 M, < 〉 ⊲ 〈 α, < 〉. Dann existiert aber ein β ∈ α mit 〈 M, < 〉 ≡ 〈 αβ, < 〉. Aber αβ = β, also sind 〈 M, < 〉 und 〈 β, < 〉 gleichlang, im Widerspruch zur Annahme. Dies zeigt (+).
Also ist A eine Menge von Ordinalzahlen, und zugleich ist jede Ordinalzahl α ein Element von A. Insbesondere gilt sup(A) + 1 ∈ A, was für alle Mengen von Ordinalzahlen falsch ist. Widerspruch!
Dass A = rng(f) eine Menge, eine konsistente Vielheit, ist, können wir so begründen: Inkonsistente Vielheiten entstehen durch zu große Zusammenfassungen. Hier ist aber die Zusammenfassung beschränkt, da A die Größe der Menge M′ hat: unter der gemachten Annahme ist f : M′ → A bijektiv. Innerhalb der axiomatischen Mengenlehre wird die Existenz der Menge A in solchen Fällen durch ein spezielles Axiom, das sog. Ersetzungsaxiom, garantiert. In der originalen Zermelo-Axiomatik ohne dieses Axiom ist der Repräsentationssatz nicht beweisbar: man kann dort nicht zeigen, dass es ausreichend viele von-Neumann-Zermelo-Ordinalzahlen gibt, um alle Wohlordnungen erreichen zu können.
Die Ordinalzahlen sind also in so großer Anzahl vorhanden, dass sie Repräsentanten für Wohlordnungen beliebiger Länge liefern. Andererseits sind sie so dünn gesät, dass diese Repräsentanten eindeutig sind. Diese Eigenschaften erlauben uns nun eine lupenreine Definition des Ordnungstyps einer Wohlordnung:
Definition (Ordnungstyp einer Wohlordnung)
Sei 〈 M, < 〉 eine Wohlordnung. Dann ist der Ordnungstyp von 〈 M, < 〉, in Zeichen o. t.(〈 M, < 〉) definiert durch:
o. t.(〈 M, < 〉) = | „die eindeutige Ordinalzahl α mit: 〈 M, < 〉 und 〈 α, < 〉 sind gleichlang“. |
Die Definition der Ordinalzahlen in dieser Sektion ist auf den ersten Blick schwer verdaulich und greift der Zeit der Mengenlehre Cantors auch voraus. Es zeigt sich aber schnell, dass man mit ihr überaus bequem arbeiten kann. Die Idee einer Ordinalzahl zu entwickeln bleibt jedem selbst überlassen, und ob man sich dabei eher am Cantorschen Abstraktionsprozess oder an der modernen und formal durchführbaren Definition orientiert, ist Geschmackssache.
von Neumann (1923):
„Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist: den Begriff der Cantorschen Ordnungszahl eindeutig und konkret zu fassen.
Dieser Begriff wird nach Cantors Vorgang gewöhnlich als ‚Abstraktion‘ einer gemeinsamen Eigenschaft aus gewissen Klassen gewonnen. Dieses etwas vage Verfahren wollen wir durch ein anderes auf eindeutigen Mengenoperationen beruhendes, ersetzen. Das Verfahren wird in den folgenden Zeilen in der Sprache der naiven Mengenlehre dargestellt werden, es bleibt aber (im Gegensatz zu Cantors Verfahren) auch in einer ‚formalistischen‘, axiomatisierten Mengenlehre richtig. So behalten unsere Schlüsse auch im Rahmen der Zermeloschen Axiomatik (wenn man das Fraenkelsche Axiom [Ersetzungsaxiom] hinzufügt) volle Geltung.
Wir wollen eigentlich den Satz: ‚Jede Ordnungszahl ist der Typus der Menge aller ihr vorangehenden Ordnungszahlen‘ zur Grundlage unserer Überlegungen machen. Damit aber der vage Begriff ‚Typus‘ vermieden werde, in dieser Form: ‚Jede Ordnungszahl ist die Menge der ihr vorangehenden Ordnungszahlen.‘“
Der Leser kann im Folgenden die Definition von Cantor-Hausdorff zugrundelegen oder die Neumann-Zermelo-Ordinalzahlen verwenden. Wir scheiben weiterhin
W(α) = { β | β < α }.
Für Neumann-Zermelo-Ordinalzahlen ist dann zudem an jeder Stelle einfach W(α) = α (und α < β ist nichts anderes als α ∈ β, und darüber hinaus identisch mit α ⊂ β).