Mächtigkeiten und Kardinalzahlen

 Wir definieren nun mit Hilfe der Ordinalzahlen die Kardinalzahlen, und anschließend, mit Hilfe des Wohlordnungssatzes, die Mächtigkeit |M| einer Menge. Wir hatten im ersten Abschnitt Cantors Definition von „Mächtigkeit“ und „Kardinalzahl“ von 1887 angegeben (Ende von 1.4), aber erst in 1.12 mit Kardinalzahlen nach Cantor und Hausdorff gerechnet. Wir können nun die definitorische Hypothek des Kapitels über Kardinalzahlarithmetik mit Hilfe der Hypothek der Cantor-Hausdorff-Ordinalzahlen zurückzahlen, oder unter Verwendung der Neumann-Zermelo-Ordinalzahlen völlig schuldenfrei werden.

 In Cantors Arbeit von 1895 findet man gleich nach seiner Definition von „Menge“ die folgende doppelte Abstraktion zu Einsen oder Einheiten:

Cantor (1895):

‚Mächtigkeit‘ oder ‚Kardinalzahl‘ von M nennen wir den Allgemeinbegriff, welcher mit Hilfe unseres aktiven Denkvermögens dadurch aus der Menge M hervorgeht, dass von der Beschaffenheit ihrer verschiedenen Elemente m und von der Ordnung ihres Gegebenseins abstrahiert wird.

 Das Resultat dieses zweifachen Abstraktionsakts, die Kardinalzahl oder Mächtigkeit von M, bezeichnen wir mit

(3)

M.

 Da aus jedem einzelnen Elemente m, wenn man von seiner Beschaffenheit absieht, eine ‚Eins‘ wird, so ist die Kardinalzahl M selbst eine bestimmte aus lauter Einsen zusammengesetzte Menge, die als intellektuelles Abbild oder Projektion der gegebenen Menge M in unserem Geiste Existenz hat.“

 Cantors Sicht ist also diese: Sieht man von der Natur der Elemente von M ab, so bleibt zunächst noch eine evtl. vorhandene Ordnung von M übrig. Löst man auch diese Ordnung auf, so bleibt ein Gebilde aus ununterscheidbaren Objekten als Ergebnis. Jede andere Menge N, für die eine Bijektion von N nach M existiert, liefert genau das gleiche Gebilde, die zu beiden Mengen gehörige Kardinalzahl. Cantor hat Funktionen und Ordnungen nicht als Mengen betrachtet, und ebenso liegen die durch Abstraktion gewonnenen Ordinal- und Kardinalzahlen außerhalb der „heutigen“, extensionalen Mengenwelt. (Andernfalls wäre nach dem Extensionalitätsaxiom die Kardinalität einer nichtleeren Menge unter Cantors Definition immer identisch mit { 1 }.) Suggestiv könnte man eine Cantorsche Ordinalzahl als 〈 〈 1, … , 1, … , 1, …  〉 〉 schreiben, wobei die Folge der Einsen eine Wohlordnung einer bestimmten Länge darstellt. Und weiter wäre dann eine Kardinalzahl eine Multimenge {{1, … , 1, … , 1, …}} , in der es zwar nicht mehr auf die Ordnung der Einsen untereinander, aber auf ihre Vielfachheit ankommt.

 Die Cantorsche Definition durch Abstraktion hat eine lange Tradition. In der griechischen Mathematik gibt es den Begriff der Einheit oder Monade. Natürliche Zahlen werden mit dieser Hypothek als Systeme von Einheiten aufgefasst. (Zur Zahl als μονάδων σύστημα bei Thales, Nikomachos von Gerasa und der „Zahl als zusammengesetzte Vielheit, bestehend aus Einheiten“ bei Euklid vgl. 1. 1.) Die griechischen Ideen werden dann dem Mittelalter etwa durch Cassiodorus (~ 477 − 565) und Boethius (~ 480 − 524) zur weiteren Bearbeitung übergeben. Boethius notiert „numerus est unitatum collectio“, Cassiodorus „numerus est ex monadibus multitudo composita“. Im Mittelalter sind dann derlei „numerus est“-Definitionen Folklore. Wie sehr auch noch Cantor von diesen Gedanken überzeugt war, zeigt der Zusatz zu seiner Definition von „Mächtigkeit oder Kardinalzahl“ durch Abstraktion: Elemente werden zu Einsen. Cantors Einsen dürfen also als eine Version der guten alten griechischen Monaden gelten. ( Zur Geschichte der Zahl siehe etwa [Gericke 1970, 1971, 1973].)

 Heute definiert man allgemein Kardinalzahlen als bestimmte Ordinalzahlen, und mit Hilfe der Neumann-Zermelo-Definition einer Ordinalzahl hat man dann diese zentralen Konstrukte der Mengenlehre innerhalb der extensional iterativen Mengenwelt selbst interpretiert, was ein weiteres Beispiel dafür darstellt, dass sich jede mathematische Theorie, auch die Cantorsche Mengenlehre, unter dem Dach der modernen (formal-axiomatischen) Mengenlehre entwickeln lässt.

 Wir definieren also:

Definition (Kardinalzahl)

Sei α eine Ordinalzahl. α heißt Kardinalzahl, falls gilt:

Für alle β < α ist |W(β)| < |W(α)|.

 Die mit Vorliebe verwendeten Zeichen für Kardinalzahlen sind κ, λ und μ.

 Die Kardinalzahlen sind die Sprungstellen in der Reihe der Ordinalzahlen hinsichtlich der Existenz von Bijektionen. α ist Kardinalzahl, falls sich für alle β < α die Menge W(β) nicht bijektiv auf W(α) abbilden lässt.

 Obige Definition benutzt nur die Relation |M| < |N|, und setzt keine Definition der Mächtigkeit |M| von M selbst voraus. Wir können nun aber mit Hilfe des Wohlordnungssatzes |M| in unaffektierter Weise als Kardinalzahl definieren:

Definition (Mächtigkeit einer Menge)

Sei M eine Menge. Dann ist die Mächtigkeit oder Kardinalität von M, in Zeichen |M|, definiert durch:

|M|  =  „die kleinste Ordinalzahl α mit: |M| = |W(α)|“.

 Eine Ordinalzahl β mit |M| = |W(β)| existiert nach dem Wohlordnungssatz: Ist 〈 M, < 〉 eine Wohlordnung von M und β = o. t.(〈 M, < 〉), so gilt |M| = |W(β)|. Dann existiert aber auch eine kleinste Ordinalzahl α mit |M| = |W(α)|, denn A = { α | α ≤ β und |M| = |W(α)| } ist eine nichtleere Menge von Ordinalzahlen und besitzt daher ein kleinstes Element.

 Die Ordinalzahlen enthalten also mit den Kardinalzahlen eine Messlatte für die Größe einer Menge, die den Zahlcharakter des Mächtigkeitsbegriffs besonders deutlich macht.

Übung

(i)

Für alle Mengen M ist |M| eine Kardinalzahl.

(ii)

Eine Ordinalzahl α ist genau dann eine Kardinalzahl, wenn |W(α)| = α gilt.

 Schließlich ordnen wir noch den Ordinalzahlen selbst eine Kardinalität zu.

Definition (Kardinalität einer Ordinalzahl)

Für eine Ordinalzahl α schreiben wir kurz |α| für |W(α)|. |α| heißt die Kardinalität von α.

 Diese Definition ist unter der modernen Definition einer Ordinalzahl leer, da dann W(α) = α gilt.