Die Cantorsche Normalform

 Die Ordinalzahlpotenzen ωα haben eine Reihe interessanter Eigenschaften, die wir im Folgenden näher untersuchen wollen.

Definition (Hauptzahlen)

Eine Ordinalzahl β heißt eine (additive) Hauptzahl, falls es eine Ordinalzahl α gibt mit β = ωα.

 Zunächst betrachten wir für eine Ordinalzahl γ ≥ 1 die Stelle α etwas genauer, für die der Schritt von ωα zu ωα + 1 die Zahl γ erfasst:

Definition α-Ausschöpfung)

Sei γ ≥ 1 eine Ordinalzahl. Wir setzen:

E(γ) =  „die größte Ordinalzahl α mit ωα ≤ γ“,
N(γ) =  „das größte n  ∈   mit ωE(γ) · n ≤ γ“,
R(γ) =  „die eindeutige Ordinalzahl ρ mit ωE(γ) · N(γ) + ρ = γ“.

 Dies ist wohldefiniert, und es gilt

0  ≤  R(γ)  <  ωE(γ)  ≤  γ.

 Große natürliche Zahlen kann man z. B. in Dezimalschreibweise „exponentiell verkürzt“ angeben. So ist etwa

1304  =  103 · 1  +  102 · 3  +  100 · 4.

Die Cantorsche Normalform ist nun ein Analogon für Ordinalzahlen, wobei ω statt 10 (oder allgemeiner statt einem n  ∈  , n ≥ 2) als Basis gewählt wird.

Satz (Cantorsche Normalform zur Basis ω)

Jede Ordinalzahl γ lässt sich in eindeutiger Weise schreiben als

γ  =  ωα1 · n1 + … + ωαk · nk,

wobei k  ∈  , 1 ≤ ni < ω für 1 ≤ i ≤ k, α1 > α2 > ... > αk ≥ 0. (Der Fall k = 0 entspricht γ = 0.)

Beweis

Wir zeigen die Existenz und Eindeutigkeit der Normalform durch Induktion über alle Ordinalzahlen γ. Für γ = 0 ist nichts zu zeigen. Sei also γ > 0. Wir setzen α1 = E(γ), n1 = N(γ). Wegen R(γ) < γ existiert nach Induktionsvoraussetzung eine Normalform von R(γ), die wir in der Form

R(γ)  =  ωα2 · n2 + ... + ωαk · nk

notieren können. Aber es gilt γ = ωα1 · n1 + R(γ), und damit ist wegen

ωα2  ≤  R(γ)  <  ωα1

offenbar eine Normalform von γ gefunden.

Zum Beweis der Eindeutigkeit sei

γ  =  ωα1 · n1 + ... + ωαk · nk

eine beliebige Normaldarstellung von γ. Dann ist

ωα2 · n2 + ... + ωαk · nk  ≤  ωα2 · (n2 + ... + nk)  <  ωα2 · ω  ≤  ωα1 .

Hieraus folgt, dass α1 = E(γ) und n1 = N(γ) gelten muss. Nach Induktionsvoraussetzung ist die Normaldarstellung von R(γ) eindeutig, und damit ist auch die von γ selbst eindeutig.

 Cantor hat die Normaldarstellung in [Cantor 1897, § 19] nur für abzählbare Ordinalzahlen aufgestellt. Der Beweis von Cantor bleibt aber für alle Ordinalzahlen α richtig.

 Es gibt auch eine Normalform zur Basis 2. Sie lautet:

Übung

Jede Ordinalzahl γ lässt sich in eindeutiger Weise schreiben als

γ  =  2α1 + ... + 2αk,  wobei k  ∈  , α1 > α2 > ... > αk ≥ 0.

 Allgemeiner existiert eine eindeutige Normalform zu jeder Basis β ≥ 2. Die Terme der Summe sind dann von der Form βα · δ, mit 1 ≤ δ < β. Zwei Zahlen γ1 und γ2 in Normalform zur Basis β können der Größe nach dann leicht verglichen werden, indem von „links nach rechts“ Exponenten und Koeffizienten auf einen Unterschied untersucht werden (völlig anlog zu 99 < 100 und 1046 < 1052).

 Die Hauptzahlen lassen sich nun leicht charakterisieren:

Übung

Sei γ eine unendliche Ordinalzahl. Dann sind äquivalent:

(i)

γ ist eine Hauptzahl.

(ii)

γ ist abgeschlossen unter Addition, d. h. δ1 + δ2 < γ für alle δ1, δ2 < γ.

(iii)

Es gilt β + γ = γ  für alle β < γ.

 Es gibt eine analoge Charakterisierung für die Ordinalzahlmultiplikation, und hierbei spielt zudem die Paarungsoperation Γ eine Rolle:

Übung

Sei γ eine unendliche Ordinalzahl. Dann sind äquivalent:

(i)

γ ist eine multiplikative Hauptzahl, d. h. es gibt eine Ordinalzahl α mit γ = ωωα.

(ii)

γ ist abgeschlossen unter Multiplikation, d. h. es gilt δ1 · δ2 < γ für alle δ1, δ2 < γ.

(iii)

Es gilt β · γ = γ  für alle 1 ≤ β < γ.

(iv)

Es gilt γ = Γ(0, γ)  für die kanonische Paarungsfunktion Γ.

 Für alle multiplikativen Hauptzahlen γ ist also die Paarungsfunktion Γ eine einfach definierte Bijektion von W(γ)2 nach W(γ).

 Eine wichtige Anwendung der Normalform ist eine auf den ersten Blick etwas kauzige Variante der Ordinalzahladdition.

Definition (Hessenbergsumme und Paarungssumme)

Seien γ, δ Ordinalzahlen, und sei

γ  =  ωα1 · n1 + ... + ωαk · nk,

δ  =  ωα1 · m1 + ... + ωαk · mk

die gemeinsame Normaldarstellung von γ und δ, d. h. wir lassen ni = 0 oder mi = 0 zu, um eine identische absteigende Folge von Exponenten zu erhalten; jedoch soll gelten ni ≠ 0 oder mi ≠ 0.

Dann ist die Hessenbergsumme von γ und δ, in Zeichen γ # δ, und die Paarungssumme von γ und δ, in Zeichen γ & δ, definiert durch:

γ  #  δ =  ωα1 · (n1 + m1)  +  ...  +  ωαk · (nk + mk),
γ  &  δ =  ωα1 · π(n1, m1)  +  ...  +  ωαk · π(nk, mk),

wobei π : W(ω) × W(ω)  W(ω) die Cantorsche Paarungsfunktion ist.

Satz

Sei α eine Hauptzahl. Dann ist & : W(α) × W(α)  W(α) bijektiv.

Beweis

Wir haben γ & δ < α für alle γ, δ < α, denn α ist als Hauptzahl abgeschlossen unter Addition, und damit auch unter Paarungssummen. Bijektivität folgt aus der Bijektivität der Cantorschen Paarungsfunktion π und der Eindeutigkeit der Normalform (und aus π(0, 0) = 0).

Korollar (Multiplikationssatz)

Sei M eine unendliche Menge. Dann gilt |M × M| = |M|.

Beweis

Sei α = |M|. Dann ist α eine unendliche Kardinalzahl und damit abgeschlossen unter Addition und somit eine Hauptzahl.

Dann aber |M| = |W(α)| = |W(α) × W(α)| = |M × M|.

 In dieser Weise hat Hessenberg 1906 den Multiplikationssatz bewiesen. Er verwendet allerdings die Funktion # statt &, und braucht dann ein zusätzliches Argument, da die Hessenbergsumme nicht injektiv ist. Sie ist aber fast injektiv: Für jedes α existieren nur endlich viele Paare (γ, δ) mit γ # δ = α (!). Dies genügt Hessenberg für einen Beweis. Die naheliegende Bemühung der Cantorfunktion macht diesen Beweis des Multiplikationssatzes, der fast nur aus Definitionen besteht, aber noch etwas transparenter.

 Die Hessenbergsumme # ist darüber hinaus in der Beweistheorie von Interesse. In der Mengenlehre haben wir die folgende kombinatorische Eigenschaft:

Übung

Seien α1, …, αn Ordinalzahlen. Dann gilt:

α1 # … # αn  =  sup { o.t.(⋃1 ≤ i ≤ n Ai) | Ai ist eine Menge von Ordinalzahlen mit o.t.(Ai) = αi für 1 ≤ i ≤ n }.