Vorwort
Die Mengenlehre fängt bei nichts an. Als Basiswissen genügt die Intuition über Menge und Element, die fast jeder schon mitbringt und die gegebenenfalls leicht erweckt werden kann. Mit Hilfe weniger elementarer Konzepte lässt sich eine reiche mathematische Theorie begründen, und es lassen sich darin schnell tiefgreifende und zum Teil im Rahmen der Theorie unlösbare Fragen aufstellen.
Dieser Text will eine Einführung in die faszinierende Welt der unendlichen Mengen geben. Er ist gedacht für Studenten der Mathematik, Informatik und Philosophie in den ersten Semestern, insbesondere für solche, die mit der rudimentären Behandlung der Mengenlehre in den Anfängervorlesungen unzufrieden sind. Darüber hinaus ist das Buch geschrieben für jeden Mathematiker, der sich gerne die Sache mit der Mengenlehre noch einmal von Grund auf erklären lassen möchte oder eine Wissenslücke zu schließen sucht. Und auch der interessierte Laie und der Schüler nach oder während der Abiturzeit kann, so ist zu hoffen, dieses Buch mit Gewinn lesen.
Die Mengenlehre ist die Untersuchung von Ordnung und Größe in der Mathematik, ihre Wurzeln sind die Theorien der Wohlordnungen und der Mächtigkeiten. Letztere vorzuziehen eignet sich für einen einführenden Abschnitt nicht nur aus historischen Gründen, sondern auch deshalb, weil sie sich unmittelbar aus dem Funktionsbegriff entwickeln lässt. Allerdings sind zwei wichtige Sätze alles andere als einfach zu beweisen: Der Satz von Cantor-Bernstein und der Vergleichbarkeitssatz von Zermelo. Wir geben vollständige Beweise dieser beiden Sätze, sodass der Anfänger auch härtere Brocken vorfinden wird.
Um die zentralen Objekte und Ideen vor dem geistigen Auge sehen zu können, ist die axiomatische Behandlung zunächst nicht notwendig, und hätte, gleich zu Beginn präsentiert, einen unangenehmen ad-hoc-Charakter. Erst die Paradoxien und metamathematische Fragen machen eine axiomatische Begründung notwendig.
Im ersten Abschnitt werden also die ersten Schritte der Theorie der Mächtigkeit rein aus der naiven Intuition des Mengenbegriffs heraus entwickelt und kommentiert. Vieles, was andernorts vielleicht verlorenging und zu schnell abgehandelt wird − die Ergebnisse aus den Geburtsjahren einer Theorie lassen sich ein Jahrhundert später immer glatt, sauber und schnell präsentieren − lebt hier noch einmal auf. Der Leser soll ein Gefühl für die Begriffe bekommen, ein solides Verständnis von dem, „worum es geht“. Wir setzen im ersten Abschnitt schamlos die natürlichen und die reellen Zahlen als gegeben und bekannt voraus. Die übrigen Definitionen aber greifen nur auf bereits Definiertes zurück. Der Funktionsbegriff ist zum Beispiel nicht mehr naiv, sondern streng mengentheoretisch, das heißt er wird auf die Relation a ist Element von b zurückgeführt. Die erzielten Kenntnisse lassen sich in einen axiomatischen Aufbau dann leicht und ohne große Wiederholungen einbinden.
Am Ende des ersten Abschnitts besprechen wir die in der naiven Mengenlehre auftretenden Paradoxien. Ein genauerer Blick auf die Fundamente wird also notwendig − und die Ergebnisse der naiven Mengenlehre zeigen, dass es der Mühe wert ist.
Bevor wir uns aber der axiomatischen Entwicklung zuwenden, behandeln wir in einem zweiten Abschnitt die beiden anderen großen Themenfelder der Cantorschen Forschung: Ordnungen und Teilmengen reeller Zahlen. Diese beiden auf den ersten Blick verschiedenen Gebiete sind historisch so stark miteinander verwoben, dass eine gemeinsame Behandlung am natürlichsten erschien; die Ordinalzahlen entdeckte Cantor bei der Untersuchung von Häufungspunkten von Teilmengen des Kontinuums. Nach einer Einführung in die Theorie der Ordnungen und insbesondere der Wohlordnungen untersuchen wir den transfiniten Prozess der Ableitung einer Punktmenge sowie Größe und Struktur perfekter Mengen. Auf der Seite der Ordnungstheorie analysieren wir über die Wohlordnungen hinaus auch die Ordnungstypen der rationalen und der reellen Zahlen, und erhalten einen rein ordnungstheoretischen Beweis für die Überabzählbarkeit des Kontinuums. Die Antinomie der „Menge aller Ordinalzahlen“, die wir am Ende des zweiten Abschnitts diskutieren, führt schließlich wieder die Notwendigkeit einer genaueren Analyse des Mengenbegriffs vor Augen.
Im dritten Abschnitt stellen wir dann die heute am häufigsten verwendete Axiomatik der Mengenlehre vor, die Zermelo-Fraenkel-Axiomatik ZFC. Zunächst formulieren wir die Axiome in der üblichen mathematischen Umgangssprache und ziehen elementare Folgerungen. Anschließend besprechen wir die formale Sprache der Mengenlehre, formulieren die Axiome von ZFC in dieser Sprache und diskutieren Mengen und Klassen.
In den Anhängen werden die wichtigsten Arbeiten von Georg Cantor, Felix Hausdorff und Ernst Zermelo kurz referiert, weiter findet der Leser dort die Lebensdaten der im Text häufiger genannten Mathematiker, sowie eine Tafel der ZFC-Axiome. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis von Originalarbeiten, Lehrbüchern und historisch-philosophischen Texten soll die weitere Erkundung der Mengenlehre in verschiedene Himmelsrichtungen erleichtern.
Gelegentlich wird auf einen zweiten Teil des Buches verwiesen. In diesem Band wird die axiomatische Mengenlehre weiter systematisch entwickelt, und einige faszinierende moderne Erkenntnisse und Entwicklungen werden im Überblick vorgestellt. Bis zum Erscheinen des zweiten Bandes müssen wir den Leser auf die Literatur verweisen.
Eingestreut in den Text sind Übungsaufgaben verschiedenen Schwierigkeitsgrades. Ihre Kenntnisnahme ist wichtig, ihre Lösung nützlich für das Verständnis des übrigen Textes. Zu manchen Übungsaufgaben findet der Leser Hinweise in eckigen Klammern.
An diese Einleitung schließt sich ein knapper historischer Überblick an, der in den Anhängen durch Materialien zur Geschichte der frühen Mengenlehre ergänzt wird. Darüber hinaus wurden den drei Abschnitten Skizzen der Biographien von Cantor, Hausdorff und Zermelo, den Hauptpersonen des Buches, hinzugefügt. Das Triumvirat, das das frühe ∈ -Imperium regiert, deckt Geist und Form der Mengenlehre perfekt ab. Eine originellere und kontrastreichere Figurenkonstellation gibt es allenfalls noch im Theater. Weiter sind Auszüge aus Originalarbeiten verschiedenster Art in den Text eingewoben, die dem Stoff eine weitere Dimension geben und ihn historisch befestigen. Der Schwerpunkt liegt aber auf den mathematischen Inhalten, die aus der heutigen Perspektive betrachtet und gewichtet werden, und die Darstellung folgt nicht in allen Punkten der geschichtlichen Entwicklung. Ein zuweilen eingestreuter Originalton ist aber für den Leser vielleicht eine willkommene Abwechslung und hoffentlich Motivation auch zur weitergehenden Lektüre.
Beweise sind kurz gehalten, und die dort verwendete Sprache ist elliptisch und karg. Ziel ist, ein Lesen zu unterstützen, das Argumente nicht Schritt für Schritt abhaken will, sondern die innere Anschauung und das Wissen um die verwendeten Objekte zu vermehren trachtet, und dabei gleichzeitig die Struktur der Argumentation im Auge behält. Hierbei wird vom Leser ein gewisses Maß an Eigenarbeit und Ergänzung erwartet. Ein Beweis soll immer mehr vermitteln als ein Gefühl der Korrektheit. Auf eine Numerierung der Sätze wurde bewusst verzichtet. Dafür sind viele Sätze mit Namen versehen, unter denen sie dann im weiteren Verlauf herangezogen werden.
Entgegen dem traditionellen und auch heute üblichen Vorgehen, alle mathematischen Symbole kursiv zu setzen, behandeln wir diese gleichberechtigt, und schreiben etwa: „Sei f eine Funktion …“ anstelle von „Sei f eine Funktion …“. Kursivstellungen sind stets Auszeichnungen innerhalb eines Textes, und ob man einen Text zu einem Großteil aus Auszeichnungen bestehen lassen will, scheint zumindest eine Geschmacksfrage zu sein. Ältere mathematische Werke enthalten bei weitem mehr Text und weniger mathematische Symbole als zeitgenössische.
Ich konnte all die mathematischen, stilistischen, didaktischen, historischen, philosophischen und typographischen Ideale, die mir vorschweben, nur in Ansätzen realisieren, hoffe aber dem Ziel, dem neugierig Zuhörenden eine vielseitige und spannende Geschichte zu erzählen, einen Schritt näher gekommen zu sein. Die Erzählung versucht verschiedene Aspekte des überlieferten Stoffs darzustellen, ohne dabei allzuoft in einen historisch−tragisch−komisch−pastoralen Stil zu verfallen. „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“ bleibt Motto bloß des Theaterdirektors, nicht des Autors. Wenn es am Ende zutrifft, so soll es aber recht sein.
Bemerkungen zur Neuauflage
Dem vorliegenden Werk liegen drei Auflagen im Springer-Verlag zugrunde (Berlin Heidelberg 2002, 2004, 2009). Meinen Dank möchte ich an dieser Stelle den vielen Lesern aussprechen, die mir seit dem Erscheinen der ersten Version des Buchs im Jahr 2002 ihre Reaktionen mitgeteilt haben, oft verbunden mit Hinweisen auf Ungenauigkeiten und mit Vorschlägen zur Ergänzung. Die breite Herkunft der Leser ist mir sehr wichtig und bestärkt mich darin, die ursprünglichen Linien des Buches unverändert beizubehalten.
München, im März 2021
Oliver Deiser