Vorwort

„Axiom“ ist ein Schlüsselbegriff der modernen Mathematik. Er wird immer dort verwendet, wo eine tragende Struktur des mathematischen Denkens durch ein kompaktes System von Aussagen erfasst werden soll. Wir sprechen von den Axiomen der Geometrie, der Zahlentheorie, von den Gruppen- und Vektorraumaxiomen, von den Axiomen für lineare Ordnungen, Verbände und Boolesche Algebren − und schließlich, auf die Mathematik als Ganzes blickend, von den Axiomen der Mengenlehre. Die axiomatische Methode ermöglicht einen systematischen, hierarchischen und kumulativen Aufbau der Mathematik und hebt ihre Klarheit und Genauigkeit noch einmal auf eine neue Stufe. Schwindelerregende Gebäude werden mit ihren Definitionen, Sätzen und Beweisen aus wenigen Axiomen errichtet, die in einer von der Logik regierten Sprache formuliert werden. Jeder neue Steinblock setzt nahtlos auf den alten auf. Neue Begriffe werden aus alten Begriffen geschmiedet, neue Sätze klären unter Einsatz bereits bewiesener Sätze begriffliche Zusammenhänge und suggerieren neue Definitionen. Dieses Vorgehen sichert der Mathematik große Stabilität, kühle Schönheit und kraftvolle Eigendynamik, und sie präsentiert sich dadurch als eine zeitlose, offene und unabhängige Schatzkammer des wissenschaftlichen Geistes.

 In diesem Buch wird ein starkes mengentheoretisches Axiomensystem betrachtet und im Detail analysiert, nämlich die Zermelo-Fraenkel-Axiomatik ZFC. Dieses System ermöglicht den Aufbau der gesamten modernen, mit unendlichen Objekten sehr freizügig umgehenden Mathematik. Damit kommt den Axiomen von ZFC eine ganz andere Bedeutung zu als etwa den Axiomen der Gruppentheorie. Denn die Gruppentheorie wird letztendlich innerhalb einer, oft naiven, mengentheoretischen Umgebung betrieben, während ZFC ein System ist, auf das sich ein Mathematiker letztendlich stützt, wenn er natürliche Zahlen, Gruppen, Vektorräume und vieles mehr betrachtet und die Zusammenhänge zwischen abstrakten Strukturen verstehen will. Die Existenz einer relativ einfachen Axiomatik, innerhalb derer die ganze Mathematik abgebildet werden kann, ist verblüffend. Die Entwicklung der axiomatischen Mengenlehre ist ein Triumph der Mathematik des 20. Jahrhunderts, und das Resultat ist eine der erstaunlichsten Theorien, die die Wissenschaft hervorgebracht hat. Ein Kind der Moderne mit romantischen Wurzeln, geboren im Umfeld von Widersprüchen und Unsicherheiten. Kühn, selbstbewusst, reflektiert.

 Sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen der Theorie ZFC wurden intensiv untersucht, und von beiden Unternehmungen will dieses Buch berichten. Während die Theoreme von ZFC die Faszination des Unendlichen schüren, indem sie uns die Tiefen des Mengenuniversums zeigen, so sind es gerade die nachweisbaren Limitationen des Systems, die ein neues Nachdenken über „Axiom“, über „Wahrheit“ und über „Mathematik“ anregen. Nur bei wenigen, die die Ergebnisse der metamathematischen Untersuchung der erfolgreichsten mathematischen Basistheorie durchdacht haben, hält sich ein naiver mathematischer Wahrheitsbegriff. Die Mengenlehre verändert den Blick auf die Mathematik. Ein fundamentales Konstrukt wie das klassische Kontinuum, interpretiert durch die Menge der reellen Zahlen, erscheint als Rätsel, als ungenügend verstanden und beschrieben, solange nicht ZFC durch zusätzliche Axiome vervollständigt oder durch ein gänzlich anderes System ersetzt wird.

 Das Buch zerfällt in zwei Teile. Im ersten Abschnitt betrachten wir das System ZFC und die Rolle, die die einzelnen Axiome darin spielen. Wir deuten an, wie sich die Mathematik mengentheoretisch interpretieren lässt und entwickeln die Mengenlehre als eine eigenständige mathematische Theorie, die vor allen Dingen die Phänomene des Unendlichen und die Struktur unendlicher Objekte zu ergründen sucht. Viele Probleme, die sich im Laufe der Untersuchung stellen, können wir lösen. Jedoch sind es vor allem zwei elementare Fragen, die sich einer Beantwortung entziehen, und die nicht nur als Schönheitsfehler, sondern als wirklicher Stachel zurückbleiben. Die erste und wichtigste ist die Cantorsche Frage nach der Mächtigkeit des Kontinuums:

Ist jede Menge von reellen Zahlen abzählbar oder gleichmächtig zu den reellen Zahlen?

Die zweite Frage, die in der Entwicklung der Mengenlehre des 20. Jahrhunderts eine ebenso wichtige Rolle gespielt hat, ist die Suslinsche Frage nach der ordnungstheoretischen Charakterisierung des Kontinuums:

Sind die reellen Zahlen bis auf Isomorphie die einzige dichte, vollständige und unbeschränkte Ordnung, in der jede Menge von disjunkten Intervallen abzählbar ist?

Im zweiten Abschnitt zeigen wir, dass diese beiden Fragen im Rahmen von ZFC nicht beantwortbar sind. Die Kontinuumshypothese und die Suslin-Hypothese, die obige Fragen jeweils mit einem „ja“ beantworten, sind unabhängig von ZFC: Sie sind weder beweisbar noch widerlegbar (es sei denn, ZFC ist widersprüchlich). Wir stellen zwei verschiedene Methoden vor, mit denen derartige Unabhängigkeitsresultate gewonnen werden können, nämlich die Methode der inneren Modelle von Gödel und die Erzwingungsmethode von Cohen. Dabei entdecken wir neue, zum Teil miteinander unverträgliche „Axiome“, die ein helles Licht auf bestimmte Bereiche eines ihnen entsprechenden Mengenuniversums werfen.

 Vorausgesetzt wird eine gewisse Vertrautheit mit der mengentheoretischen Sprache und dem mengentheoretischen Denken. Die Darstellung ist kompakt, und vom Leser wird aktive Mitarbeit erwartet. Im zweiten Abschnitt verwenden wir grundlegende Begriffe und Methoden der mathematischen Logik und Modelltheorie. Wir verweisen den Leser hierzu auf die Literatur. Insgesamt wird gar nicht soviel mathematische Logik gebraucht, wie man es bei einem derartigen metamathematischen Vorhaben vielleicht vermuten würde.

 Den Begriff eines Klassenmodells und die zugehörige Methode der relativen Widerspruchsfreiheitsbeweise entwickeln wir im zweiten Abschnitt unabhängig vom Modellbegriff der mathematischen Logik. In der Untersuchung von Gödels Klassenmodell brauchen wir den Begriff der Definierbarkeit, den Begriff eines elementaren Submodells und zuweilen auch elementare Ketten von Submodellen. Die Konstruktion von Ultrapotenzen stellen wir im Text vor, da wir eine spezielle Klassenvariante verwenden. Eine wichtige Rolle spielen zudem die Gödelschen Unvollständigkeitssätze. Sie werden eingesetzt, um zu zeigen, dass wir bestimmte relative Widerspruchsfreiheitsbeweise nicht führen können. Speziell sind sie im Umfeld der großen Kardinalzahlaxiome von Bedeutung.

 Die Kenntnis der Inhalte eines Buches wie der „Einführung in die Mengenlehre“ des Autors zusammen mit einem Grundwissen der mathematischen Logik sind die beste Voraussetzung, um verstehen zu können, was in diesem Buch behandelt wird. Der Autor hat sich zum Einen bemüht, den Text als eine Fortsetzung der „Einführung in die Mengenlehre“ erkennbar zu machen − und in diesem Sinne ist er der versprochene Band II. Zum Anderen sollte die Darstellung auch weitgehend für sich stehen können, was Wiederholungen im ersten Abschnitt mit sich bringt. Dadurch können auch Leser hinzukommen, die, mit allgemeiner mathematischer Erfahrung ausgestattet, die Mengenlehre bislang nur naiv verwendet haben, oder bei denen eine Beschäftigung mit der Mengenlehre als Theorie bereits längere Zeit zurückliegt. Ein gelegentlicher Blick in die „Einführung in der Mengenlehre“ sei zur Ergänzung empfohlen, auch im Hinblick auf eine historisch-genetische Darstellung, die in dieser „Axiomatischen Mengenlehre“ nicht verfolgt wird.

 Das Buch will denjenigen Antworten und Anregungen geben, die mit Nachdruck fragen: Wie sieht die mengentheoretische Fundierung der Mathematik und die Dynamik einer entsprechenden Axiomatik genau aus? Wie können wir mit mathematischen Methoden die Grenzen der Beweiskraft eines derartig starken Systems bestimmen? Wem diese Fragen zu architektonisch, zu kühl oder zu übermächtig erscheinen, der wird hier wahrscheinlich weniger finden als in den leichtfüßigeren und wärmeren einführenden Lehrbüchern. Die Legitimation dieser Fragen werden aber wohl alle gelten lassen, und für viele sind es Fragen mit großer Weite und Faszinationskraft.

 Neben dem Selbststudium mag sich das Buch auch für den Universitätsbetrieb eignen, als Begleittext für Vorlesungen und als Quelle für Seminarvorträge. Es deckt den Themenkatalog einer universitären Abschlussprüfung in der Mengenlehre ab, und versammelt mehr, als in zwei Semestern im Rahmen von vierstündigen Vorlesungen des Hauptstudiums üblicherweise gelehrt wird. Die deskriptive Mengenlehre wird hier allerdings nicht behandelt.

 Der Autor hofft, mit der „Einführung in die Mengenlehre“, den „Reellen Zahlen“ und der vorliegenden „Axiomatischen Mengenlehre“ dem der deutschen Sprache mächtigen Leser eine Reihe miteinander verwandter, aber auch in sich geschlossener Texte vorzulegen, die sich Grundlagenfragen der Mathematik in inhaltlich und methodisch vielfältiger Weise widmen. Der Reichtum des mathematischen Denkens soll spürbar werden, der Zauber der Unendlichkeit, die Kraft des menschlichen Geistes. Der Stoff aus dem die Träume sind ist keineswegs abschließend behandelt und erforscht, und nichts wäre erfreulicher, als wenn durch das Unterfangen ein individuell ausgeprägtes Interesse geweckt und vermehrt würde, den aufregenden und geheimnisvollen Fragen weiter nachzugehen, die die Mathematik stellt, wenn sie anfängt, über sich selbst nachzudenken. Diese Fragen führen von der Mathematik aus auch zur Philosophie, Geschichte und Didaktik.

 Der Leser findet ein umfangreiches und kommentiertes Literaturverzeichnis in der „Einführung in die Mengenlehre“. Ausgewählte Literaturangaben finden sich zudem im Anhang. Ingesamt sind die hier präsentierten Inhalte weitestgehend als „Experten-Folklore“ zu bezeichnen, als weit verbreitetes Wissen unter Mengentheoretikern. Der Autor erhebt keinerlei Anspruch auf Urheberschaft oder Originalität, er möchte vorhandenes Wissen sammeln, ordnen, darstellen und verbreiten. Die Darstellung kümmert sich im Unterschied zur „Einführung in die Mengenlehre“ nicht so sehr darum, wer wann was in welcher Form zuerst gemacht hat. Das vorliegende Lehrbuch haben neben zahlreichen Originalarbeiten, Überblicksartikeln und Büchern vor allem auch diejenigen geprägt, die ihr Wissen durch ihre Vorlesungen, Seminare und Diskussionen an mich weitergegeben haben. Allen voran möchte ich hier Dieter Donder danken. Vieles in diesem Buch habe ich von ihm gelernt und von ihm übernommen.

München, im Oktober 2021

 Oliver Deiser