Zum Begriff „Axiom“
Dem Begriff „Axiom“ liegen das griechische Verb ἀξιόω (gesprochen: axio-o) und Substantiv ἀξίωμα (axioma) zugrunde, denen eine vielschichtige Bedeutung zukommt:
ἀξιόω
„ich halte für würdig, erachte als angemessen, fordere,
verlange, halte für recht, bitte, glaube, urteile, halte dafür“
ἀξίωμα
„Ehre, Würde, Einschätzung, starke Position“
Schließlich ist das Verb ἂγω (ago) in der Bedeutung von „ich wiege, setze in Bewegung“ die gemeinsame Wurzel von ἀξιόω und ἀξίωμα. Hier sind wir dann auch beim indo-europäischen Stamm ag- angelangt, den wir nicht weiter zurückführen können.
Die Wortfelder von „Einschätzung“ und „Werturteil“ sind also in der etymologischen Bedeutung von „Axiom“ vorhanden, es finden sich aber keinerlei Anklänge von „offensichtlich, evident, trivial, definitiv, einfach“. Dagegen liegen „wahr, wichtig, richtig, adäquat, korrekt, geglaubt“ im näheren semantischen Umfeld. Die Teilbedeutung von „ich fordere“ unterstützt zwar die Lesart von Axiomen als bloßen Postulaten, unterdrückt aber für sich genommen die anderen Bedeutungsschichten zu stark.
Die Wortbedeutung erlaubt es also, ein Axiom als das Ergebnis eines unter Umständen sehr verwickelten Prozesses zu sehen, der viele verschiedene Aspekte involvieren kann. Unterstützt wird diese Sicht durch den noch weiter gehenden Rückgang zu „ich wiege“. Der Pfad von „wiegen“ zu „urteilen, als korrekt, angemessen, wahr einschätzen“ ist nicht weiter überraschend.
Frei, aber keineswegs gezwungen können wir aus moderner mathematischer Sicht das Verb ἀξιόω also als „ich studiere grundlegende mathematische Prinzipien und beurteile sie − je nach Grundhaltung − als korrekt, geeignet, angemessen, würdig, wahr“ lesen. Ein Axiom ist dann das Ergebnis von Untersuchungen, die mathematisch einfach oder schwierig sein können, und die Proklamation eines Axioms oder eines Systems von Axiomen kann mit einer komplizierten Begründung und längeren Vorgeschichte einhergehen.
Diese Sicht wollen wir nun noch durch einen Blick auf die hellenistische Mathematik untermauern.
Die drei Kategorien bei Euklid
Euklid gilt als Urvater der axiomatischen Methode, obwohl er mutmaßlich nicht der Erste war, der eine grundlegende systematische Darstellung der Geometrie unternommen hat. Seine „Elemente“ basieren wohl auf verlorenen Arbeiten von Hippokrates, Leon, Theudios und anderen, die zum Teil schon in der Platonischen Akademie studiert wurden. Aber Euklids Darstellung übertraf und ersetzte alle ihre Vorläufer und wurde über Jahrhunderte studiert und kommentiert. Sie ist ein Höhepunkt einer Epoche, die hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Haltungen als direkter Vorgänger unserer eigenen Zeit erscheint.
Das erste Buch der „Elemente“ beginnt ohne weitere Erklärungen mit drei verschiedenen Kategorien, die den systematischen Aufbau der Geometrie in Gang bringen. Im oft nur ungesichert überlieferten griechischen Text heißen diese drei Kategorien:
ὅροι (horoi), | also | „Definitionen, Grenzen“, |
αἰτήματα (aitämata), | also | „Postulate“, |
κοναὶ ἔννοιαι (kovai ennoiai), | also | „gemeinsame Gedanken, allgemeine Einsichten“. |
Die Euklid-Kommentare legen zuweilen nahe, dass Euklid ἀξιώματα (axiomata) für seine dritte Kategorie benutzt hat. Entsprechend findet sich in Übersetzungen häufig „Axiome“ als Bezeichnung für die dritte Gruppe.
Einige Beispiele für Euklids Kategorien sind:
(1) | Definitionen. Einige Definitionen sind kurze intuitive Beschreibungen wie etwa „Ein Punkt ist das, was keine Teile hat.“ oder „Die Enden einer Linie sind Punkte.“ Daneben finden sich Definitionen im üblichen Sinne, etwa die Definition eines Kreises und die seines Mittelpunkts. |
(2) | Postulate. Das erste Postulat ist: „Gefordert soll sein, dass man von jedem Punkt nach jedem Punkt die Strecke ziehen kann.“ Die Liste endet mit dem berühmten fünften Postulat über die Existenz eines Schnittpunkts von zwei nicht parallelen Linien. |
(3) | allgemeine Einsichten/Axiome. Beispiele sind die Transitivität der Gleichheitsrelation oder der Grundsatz „Das Ganze ist Größer als der Teil.“ |
Damit sind Euklids „Axiome“, wenn wir die dritte Kategorie überhaupt in dieser Weise angemessen übersetzen, eher „logische Axiome“ oder „Denkgesetze“, während die heutigen in der Mathematik als Axiome bezeichneten theoriebildenden Aussagen der zweiten Euklidischen Kategorie der Postulate zugehören. Unterstützt durch philosophische Analysen des Diskutierens, wo „Hypothese“, „Definition“, „Forderung“, „Axiom“ fast gleichwertig für die einen rationalen Diskurs ermöglichenden Übereinkünfte der Gesprächsteilnehmer verwendet wurden, sind die drei Euklidischen Kategorien oft zusammengeworfen und vermischt worden. Die aus heutiger Sicht sehr feine Unterscheidung zwischen mathematischer Theorie und reiner Logik wurde dadurch wieder verdeckt. Warum sich in der Mathematik „Axiom“ gegenüber „Aitema“ durchgesetzt hat, ist eine schwierige Frage. Die unangemessen erscheinende Willkürlichkeit von bloßen „Forderungen“ spielte neben Einflüssen der philosophischen Begriffsausbildung vielleicht eine wichtige Rolle.
Axiome und Evidenz
In der philosophischen Tradition wird der Begriff „Axiom“ seit Aristoteles mit dem Begriff „Evidenz“ verlinkt: Die angenommenen Grundsätze können nicht mehr weiter aufgelöst, verfeinert, aus anderen Grundsätzen hergeleitet werden, und dies ist auch kein Nachteil, denn diese Grundsätze sind selbstverständlich, für jedermann einleuchtend, indiskutabel, evident. Ist die Bevorzugung von „Axiom“ gegenüber „Aitema“ in der Mathematik etymologisch gut begründet, so erscheint der Zukauf der Evidenz heute als eine Hypothek, die die Mathematik belastet hat und zum Teil noch immer belastet.
Es gibt in den „Elementen“ keinen Hinweis darauf, dass Euklid seine Postulate als „evident“ betrachtet hat. Das Gleiche gilt für viele seiner Kommentatoren. In dem sehr einflussreichen sieben Jahrhunderte nach Euklid verfassten Kommentar von Proklus Diadochus findet sich folgende Diskussion der drei Euklidischen Kategorien:
„Sodann teilt Euklid auch noch die allgemeinen Prinzipien selbst in die Definitionen (Hypothesen), die Postulate und die Axiome. Das alles ist nämlich voneinander verschieden, und Axiom, Postulat und Definition sind nicht dasselbe, wie irgendwo der gefeierte Aristoteles sagt; wenn vielmehr das, was als Prinzip angenommen wird, auch dem Lernenden einleuchtet und an sich evident ist, so handelt es sich um ein Axiom, wie z. B. bei dem Satz: Sind zwei Größen einer dritten gleich, so sind sie auch unter sich gleich. Wenn aber der Hörer das Verständnis einer Behauptung als von sich aus einleuchtend nicht schon in sich hat, die Behauptung aber gleichwohl aufgestellt wird und er die Annahme zugibt, dann handelt es sich um eine Definition. Dass z.B. der Kreis eine Figur ist von der und der Beschaffenheit, das tragen wir nicht im Vorhinein (a priori) und ohne Belehrung als Gemeinbegriff in uns; wenn wir es aber hören, so geben wir es ohne Beweis zu. Wenn aber die Behauptung noch unbekannt ist und die Annahme gleichwohl erfolgt, obwohl der Lernende sie nicht zugibt, dann, sagt er, sprechen wir von einem Postulat, wie z. B. bei dem Satz, dass alle rechten Winkel einander gleich sind. Den Beweis liefern dann alle diejenigen, die sich viel Mühe gaben mit der Erledigung eines Postulates, da sie überzeugt waren, dass niemand ohne weiteres es zugeben könne.“ (zitiert nach [ Becker 1975, S. 100 ] )
Hiernach sind also nur die allgemein akzeptierten Grundsätze der dritten Kategorie „evident“, und ihre Übersetzung als „Axiome“ mag dazu beigetragen haben, dass auch der mathematische Begriff „Axiom“, der später auch die Euklidischen Postulate bezeichnet, mit „evident“ in Verbindung gebracht worden ist. Bei Proklus sind die „Forderungen“ gerade diejenigen Aussagen, deren Vermittlung am schwersten ist.
Die Evidenzforderung an ein Axiom oder ein System von Axiomen erscheint damit als eine Zutat, die für die Mathematik nicht angemessen ist. Sie widerspricht sowohl der etymologischen Wurzel (ἀξιόω) und Urwurzel (ἂγω) von „Axiom“, als auch dem bei Euklid und seinen Kommentatoren dokumentierten Verständnis der griechischen Mathematik. Sie schlich sich über philosophische Umwege in die Geometrie ein, wurde dann aber durch die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien wieder vertrieben. Und auch bei einem Rückzug auf ein umfassenderes mengentheoretisches System, das die Entwicklung der unterschiedlichsten mathematischen Theorien erlaubt, ist sie, nun auf die Axiome der Mengenlehre angewendet, wieder zweifelhaft. Bereits bei den einfachen mengentheoretischen Axiomen können wir die Evidenzfrage stellen: Warum sollte es evident sein, dass zu je zwei Mengen a und b die Paarmenge { a, b } existiert? Noch deutlicher wird dies bei einem kritischen Axiom wie dem Potenzmengenaxiom. Warum sollte es beispielsweise evident sein, dass die Menge aller Teilmengen der natürlichen Zahlen eine Menge ist? In beiden Fällen trifft die Beschreibung eines Axioms als Ergebnis eines mathematischen Untersuchungs-, Abwägungs- und Beurteilungsprozesses besser zu.
Wird von Axiomen als einer Kombination wichtiger Struktureigenschaften gesprochen wie im Falle der Gruppenaxiome, so kommt die Evidenzfrage ohnehin gar nicht erst auf. Was noch bleibt, ist die Zahlentheorie, die ein „psychologisch eindeutiges“ Modell verfolgt. Aber selbst die Evidenz der einfacheren der Peano-Axiome ist schwer zu beurteilen, weil jeder, der mit ihnen in Berührung kommt, schon relativ viel Arithmetik kennen gelernt hat und damit den Abwägungsprozess selber durchführen kann. Das entscheidende erststufige Induktionsschema dürfte heute nur von wenigen Lernenden wie auch erfahrenen Mathematikern als „evident“ bezeichnet werden. Und der Satz, dass es bis auf Isomorphie nur eine Peano-Struktur gibt, ist ein Satz aus der Mengenlehre und sein Beweis verlässt das Reich der reinen Zahlentheorie.
Den drei historisch und inhaltlich herausragenden grundlegenden Axiomensystemen der Euklidischen Geometrie, der Peano-Arithmetik und der axiomatischen Mengenlehre ZFC ging jeweils eine lange Phase des intensiven Studiums von geometrischen Figuren, von natürlichen Zahlen bzw. von unendlichen Mengen voraus. Mathematiker wie Euklid, Dedekind, Hilbert, Ackermann, Peano, Zermelo, Fraenkel und viele andere haben eine „Welt“, die sie und andere vor ihnen erforscht hatten, die sie kannten und vor Augen sahen axiomatisch beschrieben − mit bestimmten Intentionen und innerhalb eines bestimmten historischen Kontextes. Im Falle der Mengenlehre haben wir das Glück, diesen Kontext im Detail dokumentiert vorzufinden. Hinter der Forderung nach der Existenz der Potenzmenge der natürlichen Zahlen steht letztendlich die im 19. Jahrhundert erfolgte Arithmetisierung des Kontinuums. Und Zermelos Auswahlaxiom ist historisch untrennbar mit dem von Cantor ins Zentrum gerückten Wohlordnungsbegriff verbunden. Es untermauert diesen Begriff, indem es eine neue Sicht auf die Wohlordenbarkeit jeder Menge wirft.
Kriterien
Nach welchen Kriterien wird eine Aussage zu einem Axiom ernannt? Und speziell für die Mengenlehre: Wie können die Axiome von ZFC und Erweiterungen von ZFC begründet werden? Muss ein Axiom von einem Lernenden nach kurzem oder längerem Nachdenken akzeptiert werden oder genügt es, wenn es die besten Forscher nach einem abwägenden Forschungsprozess von mehreren Generationen als „angemessen, für recht, würdig, wahr“ erachten? Welche Rolle spielt die Intuition und das Wissen der nicht auf Grundlagenfragen spezialisierten Mathematiker?
Bleiben wir bei der Intuition der nichtspezialisierten Mathematiker stehen, so ist eine allgemein akzeptierte Erweiterung von ZFC für die nähere Zukunft nicht in Sicht. Weiter hat sich auch unter den Mengentheoretikern noch keine so starke Kraft für eine bestimmte Erweiterung von ZFC ergeben, dass die entsprechende Skepsis und Gegenkraft als vernachlässigbare Größe bezeichnet werden könnte. Und auch bei einer großen Einigkeit einer Spezialistengruppe würde ein „Glaube“ an diese und jene neue Axiome wohl mit einer relativ komplexen und ungewöhnlichen Begründung einhergehen, die vielen Mathematikern als autoritärer Schamanismus erschiene. Aber die Komplexität und Neuartigkeit einer Argumentation spricht nicht gegen sie, und die einfache Vermittelbarkeit ist ein problematisches Kriterium, das ein Mathematiker ja auch für seine eigene Spezialisierung nicht immer einfordern würde.
Alle Entwicklungen zur Erweiterung der axiomatischen Mengenlehre sind noch recht jung. Es wäre schon viel erreicht, wenn die gefundenen Erweiterungsmöglichkeiten von ZFC um das quasivollständige Axiom „V = L“, um die großen Kardinalzahlaxiome, um kombinatorische Prinzipien und um die durch die Erzwingungsmethode motivierten Axiome größere Verbreitung finden würden als bislang. Dieser Text will diesem Ziel dienen und nicht einer vorschnellen Antwort auf einige der tiefsten Fragen, die die Mathematik überhaupt stellen kann.