1. Die Abstände zwischen den Primzahlen
Bei der Durchführung des Siebs des Eratosthenes oder beim Studium einer Primzahltafel wie der im Anhang des Buches fallen die unregelmäßigen Abstände zwischen zwei aufeinanderfolgenden Primzahlen ins Auge. Wir definieren hierzu:
Definition (Primzahlabstände)
Für alle n ≥ 1 setzen wir
gn = pn + 1 − pn,
wobei pn und pn + 1 die n-te bzw. (n + 1)-te Primzahl ist.
Aufgrund der Unendlichkeit der Primzahlen ist gn für alle n ≥ 1 definiert. Die Bezeichnung „g“ steht für engl. „gap“. Die Zahl gn gibt der Größe der „Lücke“ zwischen pn und pn + 1 an.
Beispielsweise gilt
g1 = 3 − 2 = 1
g2 = 5 − 3 = 2
g3 = 7 − 5 = 2
g4 = 11 − 7 = 4
Die ersten Glieder der Abstandsfolge (gn)n ≥ 1 sind:
1, 2, 2, 4, 2, 4, 2, 4, 6, 2, 6, 4, 2, 4, 6, 6, 2, 6, 4, 2, 6, 4, 6, 8, 4, 2, 4, 2, 4, 14, 4, 6, 2, 10, 2, 6, 6, 4, 6, 6, 2, 10, 2, 4, 2, 12, 12, 4, 2, 4, 6, 2, 10, 6, 6, 6, 2, 6, 4, 2, 10, 14, 4, 2, 4, 14, 6, 10, 2, 4, 6, 8, 6, 6, 4, 6, 8, 4, 8, 10, 2, 10, 2, 6, 4, 6, 8, 4, 2, 4, 12, 8, 4, 8, 4, 6, 12, 2, 18, 6, 10, 6, 6, 2, 6, 10, 6, 6, 2, 6, 6, 4, 2, 12, 10, 2, 4, 6, 6, 2, 12, 4, 6, 8, 10, 8, 10, 8, 6, 6, 4, 8, 6, 4, 8, 4, 14, 10, 12, 2, 10, 2, 4, 2, 10, 14, 4, 2, 4, 14, 4, 2, 4, 20, 4, 8, 10, 8, 4, 6, 6, 14, 4, 6, 6, 8, 6, 12, 4, 6, 2, 10, 2, 6, 10, 2, 10, 2, 6, 18, 4, 2, 4, 6, 6, 8, 6, 6, 22, 2, 10, 8, 10, 6, 6, 8, 12, 4, 6, 6, 2, 6.
Der Leser findet die Abstände aller Primzahlen bis 10000 im Anhang. Der maximal auftauchende Abstand ist hier 36.
Die Zahl 1 am Anfang ist die einzige ungerade Zahl der Abstandsfolge. Denn alle Primzahlen größergleich 2 sind ungerade und die Differenz zweier ungerader Zahlen ist gerade. Weitere Eigenschaften der Folge lassen sich vermuten und wir können zahlreiche Fragen stellen. Einige davon sind:
Ist die Folge unbeschränkt in den natürlichen Zahlen?
Taucht jede gerade Zahl in der Folge auf?
Taucht jede gerade Zahl in der Folge unendlich oft auf?
Taucht das Muster 2, 4, 2 in der Folge unendlich oft auf?
Welche Muster können nicht auftreten?
Welche Häufigkeiten haben die Abstände?
Wir werden diesen Fragen in diesem Abschnitt nachgehen und dabei auf viele offene Probleme und Hypothesen stoßen. Überraschenderweise ist die erste Frage vergleichsweise leicht zu beantworten. Erneut ist es das Argument von Euklid, das zum Ziel führt. Auf eine Euklidische Zahl folgt ein langes Intervall zusammengesetzter Zahlen:
Satz (Intervalle zusammengesetzter Zahlen)
Es gibt beliebig lange Intervalle, die nur aus zusammengesetzten Zahlen bestehen. Genauer gilt: Seien k ≥ 2 und p1 < … < pk die ersten k Primzahlen, und sei a = p1 … pk + 1. Dann bilden die Zahlen
a + 1, a + 2, a + 3, …, a + pk
ein Intervall zusammengesetzter Zahlen der Länge pk.
Damit gibt es also eine Zahl m derart, dass sich im Intervall
m, m + 1, …, m + 10100
keine einzige Primzahl findet! Folglich gibt es ein n mit gn > 10100.
Beweis
Sei n beliebig mit 2 ≤ n ≤ pk. Da die Zahlen p1, …, pk alle Primzahlen bis pk durchlaufen, ist n durch ein pi mit i ≤ k teilbar. Dann ist pi auch ein Teiler von p1 … pk + n, da pi beide Summanden teilt. Es gilt
p1 … pk + n = a + n − 1.
Dies zeigt, dass alle Zahlen
a + 1, a + 2, a + 3, …, a + pk − 1
zusammengesetzt sind. Weiter ist auch a + pk zusammengesetzt. Denn die Zahlen a und pk sind ungerade (da k > 1). Damit ist a + pk gerade und folglich durch 2 teilbar.
Beispiel
Mit den Primzahlen 2, 3, 5, 7 gilt
a = 2 · 3 · 5 · 7 + 1 = 210 + 1 = 211.
Der Beweis zeigt, dass die sieben Zahlen 212, …, 218 zusammengesetzt sind. In der Tat gilt
212 = 22 · 53, 213 = 3 · 71, 214 = 2 · 107,
215 = 5 · 43, 216 = 23 · 33, 217 = 7 · 31, 218 = 2 · 109.
Auch die Zahlen 219, 220, 221 und 222 sind zusammengesetzt, sodass das auf eine Euklidische Zahl folgende Intervall zusammengesetzter Zahlen noch größer sein kann. Für die Primzahlen 2, 3 folgen auf die Euklidische Zahl 2 · 3 + 1 aber genau drei zusammengesetzte Zahlen, sodass die Länge im Allgemeinen nicht verbessert werden kann.
Das Argument erweitert das Bild, das der Beweis der Unendlichkeit der Primzahlen von Euklid zeichnet: Bilden wir a = p1 … pk + 1 mit den ersten k Primzahlen, so enthält a einen „neuen“ Primfaktor. Danach folgt ein langes Intervall zusammengesetzter Zahlen.
Wie beim Beweis von Euklid können wir auch Fakultäten anstelle von Primzahlprodukten verwenden, um beliebig lange Intervalle zusammengesetzter Zahlen zu konstruieren. Für jede natürliche Zahl n ≥ 2 sind die Zahlen
n! + 2, n! + 3, n! + 4, …, n! + n.
zusammengesetzt. Denn ist 2 ≤ k ≤ n, so ist jeder Primteiler p von k ein Teiler von n!, sodass n! + k durch p teilbar ist.
Im Hinblick auf die Primzahlabstände erhalten wir:
Korollar (Unbeschränktheit der Primzahlabstände)
Die Folge (gn)n ≥ 1 ist unbeschränkt in den natürlichen Zahlen: Für alle d ≥ 1 gibt es ein n ≥ 1 mit gn ≥ d.
Der Primzahlpfad
Die Abstände zwischen den Primzahlen können wir zweidimensional wie folgt visualisieren: Wir starten im Nullpunkt. Nun gehen wir zyklisch nach Osten, Norden, Westen, Süden entlang von Geradenstücken. Die Länge der Geradenstücke sollen den Abständen aufeinanderfolgender Primzahlen entsprechen. Wir gehen also
von (0, 0) nach Osten zu (2, 0) | Länge des Weges: 2 − 0 = 2 |
von (2, 0) nach Norden zu (2, 1) | Länge des Weges: 3 − 2 = 1 |
von (2, 1) nach Westen zu (0, 1) | Länge des Weges: 5 − 3 = 2 |
von (0, 1) nach Süden zu (0, −1) | Länge des Weges: 7 − 5 = 2 |
von (0, −1) nach Osten zu (4, −1) | Länge des Weges: 11 − 7 = 4 |
usw. Anders formuliert: Wir knicken den Zahlenstrahl bei den Primzahlen um 90 Grad gegen den Uhrzeigersinn.
Die folgenden Diagramme zeigen einige Anfangsstücke des Primzahlpfades. Der Farbverlauf entspricht den Regenbogenfarben (Startpunkt violett, Endpunkt des gezeigten Abschnitts rot).
Der Primzahlpfad für die ersten 100 Primzahlen: 2, 3, 5, …, 521, 523, 541
… für die ersten 5000 Primzahlen
… für die ersten 20000 Primzahlen