1.Definition, Satz, Beweis

Die Wissenschaft der Mathematik beginnt mit den alten Griechen, und unsere Geschichte über Euklid und die Unendlichkeit der Primzahlen zeigt beispielhaft, welche Fragen die Mathematik stellt und wie durch die Beantwortung dieser Fragen das mathematische Wissen vermehrt wird. In der Nachfolge von Euklid, Archimedes und vielen anderen ist ein gewaltiges Gebäude entstanden, das nicht nur im Hinblick auf die Ergebnisse und Methoden, sondern auch in der Organisation des Wissens Vorbildcharakter für viele andere Wissenschaften besitzt. Wie jede hochentwickelte Wissenschaft besitzt die Mathematik eine Fachsprache, die von einer weltweiten Gemeinschaft verwendet, gepflegt und weiterentwickelt wird. Die Mathematik ist von dieser Sprache nicht zu trennen. In diesem Essay wollen wir darlegen, wie das Ergebnis der Unendlichkeit der Primzahlen in der mathematischen Fachsprache aufgeschrieben werden kann. Die Darstellung entspricht den modernen Standards, ihre wesentliche Struktur findet sich bereits in Euklids „Elementen“. Es ist bemerkenswert, dass die mathematische Erkenntnis und die Sprache der Mathematik von Beginn an Hand in Hand gingen.

 Das Ergebnis von Euklid lautet: Es gibt unendlich viele Primzahlen. Um dieses Ergebnis zu dokumentieren, verwendet die Mathematik drei wesentliche und streng von einander zu unterscheidende Kategorien:

(1)

Definitionen, die die betrachteten Begriffe festlegen.

(2)

Sätze, in denen Ergebnisse über die Begriffe formuliert werden.

(3)

Beweise, die zeigen, dass die Sätze gültig sind.

 Unsere Überlegungen drehen sich um den Begriff der Primzahl. Wir legen diesen wie folgt fest:

Definition (zusammengesetzte Zahl, Primzahl)

Eine natürliche Zahl n ≥ 2 heißt eine zusammengesetzte Zahl, falls es natürliche Zahlen m, k ≥ 2 gibt mit n = m · k. Andernfalls heißt n eine Primzahl oder kurz prim.

 Eine Definition gibt genau an, was unter einem mathematischen Begriff zu verstehen ist. Sie enthält keine Ergebnisse und keine Beispiele. Sie zeichnet bestimmte mathematische Objekte aus und gibt ihnen einen Namen (in obiger Definition kursiv gesetzt). Dabei verwendet sie bekannte Begriffe. In unserem Beispiel wird vorausgesetzt, dass der Leser mit der Ordnungsrelation „größer gleich“ und der Multiplikation natürlicher Zahlen vertraut ist.

 Primzahlen sind nun definiert. In der klassischen straffen Organisation des mathematischen Wissens werden nun die von wem und wie auch immer gefundenen Ergebnisse in der Form von Sätzen präsentiert. In unserem Beispiel:

Satz (Unendlichkeit der Primzahlen)

Es gibt unendlich viele Primzahlen.

 Mathematische Sätze bringen einen mathematischen Sachverhalt zum Ausdruck. Genauer ist der Sachverhalt, der im Satz formuliert wird, bewiesen und in diesem Sinne gültig, richtig oder wahr. Ohne vorliegenden Beweis würden wir von einer Vermutung oder Hypothese sprechen, aber nicht von einem Satz. „Satz“ bedeutet: Irgendein Mathematiker oder eine Gruppe von Mathematikern hat mindestens einen Beweis des Satzes gefunden. Dass Sätze vor ihren Beweisen formuliert werden, entspricht nicht der Entstehung von Mathematik! In der Entstehung gibt es eine Hypothese („Es gibt unendlich viele Primzahlen“) und eine Gegenhypothese („Es gibt eine größte Primzahl“), die beide untersucht werden. Sobald ein Beweis gefunden wird, wird die Hypothese oder die Gegenhypothese zum mathematischen Satz. Die andere Aussage ist dann widerlegt.

 Ein Beweis wird in der Regel unmittelbar an einen Satz angefügt. Euklids Beweis können wir so notieren:

Beweis

Seien p1, …, pn Primzahlen, mit einer beliebig großen natürlichen Zahl n. Wir zeigen, dass es eine Primzahl p gibt, die von allen Primzahlen p1, …, pn verschieden ist. Damit ist gezeigt, dass es unendlich viele Primzahlen gibt.

Wir setzen hierzu

a  =  p1 · … · pn  +  1.

Dann ist a eine natürliche Zahl, die bei der Division durch p1, …, pn jeweils den Rest 1 besitzt. Damit ist a durch keine der Primzahlen p1, …, pn teilbar. Sei nun p der kleinste Teiler von a, der größer als 1 ist (ist die Zahl a prim, so ist p = a; ist a zusammengesetzt, so ist p < a). Dann ist p eine Primzahl. Da p ein Teiler von a ist, ist p von allen Primzahlen p1, …, pn verschieden (da diese kein Teiler von a sind). Also ist die Primzahl p wie gewünscht.

 Wird ein weiterer Beweis eines Satzes gefunden, so kann dieser, wenn er einfacher erscheint oder aus anderen Gründen das Prädikat „besser“ bekommt, den ursprünglichen Beweis verdrängen. Bis heute ist Euklids Beweis der Standardbeweis für die Unendlichkeit der Primzahlen geblieben. Er wird heute anders aufgeschrieben als bei Euklid, aber die Beweisidee ist dieselbe. (Wir diskutieren Euklids Beweis, wie er in seinen „Elementen“ erscheint, in einem eigenen Essay.)

 In der Regel wird in mathematischen Texten nur ein Beweis eines Satzes gegeben. Für eine Forschungsarbeit ist dies sicherlich angemessen, und auch für eine systematische Lehrbuch-Darstellung einer mathematischen Theorie ist es alleine schon aufgrund der Fülle der Ergebnisse oftmals gar nicht anders möglich. Wir betrachten, den Intentionen dieses Buches folgend, auch viele andere Beweise des Satzes von Euklid. Der Leser findet sie in einem eigenen Abschnitt.

 In ihrer Quintessenz besteht die Mathematik aus dem Kategorien-Trio

Definition, Satz, Beweis,

wobei schließlich noch die Axiome als grundlegende unbewiesene Sätze hinzukommen. Definitionen, Sätze und Beweise beantworten in höchster, von keiner anderen Wissenschaft erreichter Präzision die drei Fragen:

Worum geht es?  Was gilt?  Warum gilt es?

Die Mathematik ist viel mehr als dieses Trio. Aber alles Weitere − naturwissenschaftliche und technische Anwendungen, Didaktik, Visualisierung, Wissenschaftstheorie − stützt sich auf diese einzigartige Grundlage.