4.Beispiele und Experimente

Nach einer Definition können wir uns Beispiele und Gegenbeispiele überlegen, die uns helfen, mit einem neuen Begriff vertraut zu werden. Für die Primzahlen könnten wir angeben:

Beispiele

(1)

Die ersten Primzahlen sind:

2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29, 31, 37, 41, 43, 47, 53, 59, 61, 67, 71, …

(2)

Die ersten zusammengesetzten Zahlen sind:

4, 6, 8, 9, 10, 12, 14, 15, 16, 18, 20, 21, 22, 24, 25, 26, 27, 28, 30, 32, …

 Diese Beispiele laden uns nun zum Spielen und Experimentieren ein:

Experiment

Wir überlegen uns, welche Zahlen wir mit Hilfe der Primzahlen 2 und 3 zusammensetzen können:

2 2 · 2  =  4 2 · 2 · 2  =  8
3 3 · 3  =  9 3 · 3 · 3  =  27
2 · 3  =  6 2 · 2 · 3  =  12 2 · 3 · 3  =  18

Allgemein erhalten wir dadurch die Zahlen der Form 2k 3m, mit beliebigen Exponenten k, m ≥ 0. Bis 100 sind dies genau die 20 Zahlen

1, 2, 3, 4, 6, 8, 9, 12, 16, 18, 24, 27, 32, 36, 48, 54, 64, 72, 81, 96.

Erweitern wir unseren Vorrat auf 2, 3, 5, so erhalten wir alle Zahlen der Form 2k 3m 5r. Bis 100 liefert dies die 34 Zahlen

1, 2, 3, 4, 5, 6, 8, 9, 10, 12, 15, 16, 18, 20, 24, 25, 27, 30, 32, 36, 40, 45, 48, 50, 54, 60, 64, 72, 75, 80, 81, 90, 96, 100.

Erweitern wir um die 7, so erhalten wir alle Zahlen der Form 2k 3m 5r 7s. Bis 100 gibt es jetzt die 46 Zahlen

1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 12, 14, 15, 16, 18, 20, 21, 24, 25, 27, 28, 30, 32, 35, 36, 40, 42, 45, 48, 49, 50, 54, 56, 60, 63, 64, 70, 72, 75, 80, 81, 84, 90, 96, 98, 100.

Lassen wir alle Primzahlen zu, so erhalten wir Zahlen der Form

(+)  2e1 3e2 … pnen,  mit der n-ten Primzahl pn und Exponenten e1, …, en ≥ 0.

Dies liefert alle Zahlen, da sich jede Zahl durch wiederholtes Abspalten ihres kleinsten Primteilers wie in (+) schreiben lässt. Auch dieses Verfahren können wir exemplarisch illustrieren:

Beispiel: Wiederholtes Abspalten des kleinsten Primfaktors

Wir betrachten die Zahl 20748. Die Zahl ist gerade, sodass wir die 2 abspalten können:

20748  =  2 · 10374

Der Faktor 10374 ist erneut gerade, sodass wir

20758  =  2 · 2 · 5187

erhalten. Die Zahl 5187 ist durch 3 teilbar, wie wir zum Beispiel mit der Quersummenregel erkennen können: 5 + 1 + 8 + 7= 21 = 3 · 7. Kennen wir die Quersummenregel nicht, führen wir eine Division mit Rest durch 3, 5, 7, … aus, um den nächsten Primteiler zu finden; bereits im ersten Schritt der Division durch 3 sind wir erfolgreich. Unabhängig von der verwendeten Methode erhalten wir

20758  =  2 · 2 · 3 · 1729

Da 1729 nicht in 0 oder 5 endet, ist diese Zahl nicht durch 5 teilbar. Die Division mit Rest zeigt, dass die Zahl durch 7 teilbar ist. Wir erhalten

20758  =  2 · 2 · 3 · 7 · 247

Wer das große Einmaleins kennt, weiß, dass 247 = 13 · 19. Andernfalls führt eine Division mit Rest durch 11 (nicht erfolgreich) und dann 13 (erfolgreich) zu dieser Zerlegung. Insgesamt ergibt sich

20758  =  2 · 2 · 3 · 7 · 13 · 19  =  22 · 31 · 71 · 131 · 191.

Unsere Zahl hat also zweimal den Baustein 2 und je einmal die Bausteine 3, 7, 13 und 19.

 Wir entdecken auf diese Weise auch die Frage nach der Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung einer natürlichen Zahl. Sie gilt, ist aber keineswegs leicht zu beweisen. Es mag schwer vorstellbar sein, wie sich die Zahl 20758 abgesehen von der Reihenfolge der Faktoren anders als

20758  =  2 · 2 · 3 · 7 · 13 · 19

darstellen ließe. Aber in der Mathematik muss alles bewiesen werden, wenn es nicht als Axiom (als unbewiesene Grundannahme, als „Satz ohne Beweis“) gelten soll. Und die Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung wollen wir sicher nicht als Axiom ansehen. Wenn der Leser jetzt neugierig geworden ist, wie man das beweisen kann, ist das großartig. Er kann weiterlesen oder zum Abschnitt über die Primfaktorzerlegung springen, in dem wir die Frage ausführlich diskutieren und verschiedene Beweise des Fundamentalsatzes der Zahlentheorie vorstellen. (In diesem Text gibt es keine Spoiler, nichtlineare Lektüre ist immer möglich, und zwar sowohl ungeduldig vorwärts als auch wiederholend rückwärts.)

 In einem anderen spielerischen Experiment verfolgen wir das Ziel, systematisch alle zusammengesetzten Zahlen über Vielfache zu erzeugen:

Experiment

Wir beginnen mit den Vielfachen der 2:

2, 4, 6, 8, 10, 12, 14, 16, 18, 20, …

Danach kommen die Vielfachen der 3:

3, 6, 9, 12, 15, 18, 21, 24, 27, 30, …

Die beiden Zahlenfolgen haben genau die Vielfachen von 6 gemeinsam (mit 6 = 2 · 3). Die Vielfachen der 4 brauchen wir nicht zu betrachten, da sie allesamt Vielfache der 2 sind. Als Nächstes kommen die Vielfachen der 5:

5, 10, 15, 20, 25, 30, 35, 40, 45, 50, …

In allen drei Zahlenfolgen sind genau die Vielfachen von 30 enthalten (mit 30 = 2 · 3 · 5). Die Vielfachen der 6 sind sowohl Vielfache der 2 als auch Vielfache der 3, sodass sie nichts Neues bringen. Weiter geht es mit den Vielfachen der 7, 11, 13 usw. Die ersten Zahlen unserer Folgen sind Primzahlen, alle weiteren Zahlen sind als echte Vielfache zusammengesetzt. Organisieren wir den Vorgang als Streichung von echten Vielfachen in einer Zahlenliste 2, 3, …, n, so gelangen wir zum berühmten Sieb des Eratosthenes. Wir untersuchen dieses Verfahren aufgrund seiner Bedeutung in einem eigenen Essay.

Beispiele und Experimente können wir nicht nur zu Definitionen durchführen, sondern auch zu Sätzen und ihren Beweisen:

Beispiele zum Beweis des Satzes von Euklid

Die Grundidee des Beweises lautete: Multipliziere und addiere Eins. Für die drei Primzahlen 2, 3, 5 ergibt sich

2 · 3 · 5  +  1  =  31.

Die Zahl 31 ist nach Konstruktion nicht durch 2, 3 und 5 teilbar (Rest 1 bei Division durch diese Zahlen). Damit ist jeder Primteiler von 31 verschieden von 2, 3 und 5, sodass es mehr Primzahlen gibt als 2, 3 und 5. Die Zahl 31 ist sogar selbst eine Primzahl.

Für die Primzahlen 2, 5, 11 erhalten wir

2 · 5 · 11  +  1  =  111.

Die Zahl 111 ist nicht nach Konstruktion nicht durch 2, 5 und 11 teilbar, sodass jeder Primteiler von 111 von 2, 5 und 11 verschieden ist. Hier gilt

111  =  3 · 37.

Die konstruierte Zahl ist also selbst nicht prim.

 Diese Überlegungen werfen die Frage auf, ob und wann die im Beweis von Euklid konstruierte Zahl selbst prim ist oder nicht. Wir diskutieren diese Frage im Essay über Euklidische Zahlen, fügen aber gleich an dieser Stelle hinzu, dass sie bis heute weitestgehend unbeantwortet ist.

 Der Satz des Euklid besagt, dass es keine größte Primzahl gibt und führt so zur sportlich-kompetitiven Suche nach immer größeren Primzahlen und neuen Primzahlrekorden. Auch wenn den Zahlen für sich keine große Bedeutung zukommt, so spielen doch große Primzahlen in der Kryptographie eine sehr wichtige Rolle. Damit geht es mehr um die Methoden, große Primzahlen zu erzeugen und nicht so sehr um die Rekorde. Wie auch immer:

Beispiele für sehr große Primzahlen

Die folgenden Zahlen sind prim:

217 − 1  =  131.071 Cataldi 1588
(232 + 1)/641  =  6.700.417Euler 1732
231 − 1  =  2.147.483.647 Euler 1772
2127 − 1 Lucas 1876
282589933 − 1GIMPS 2018

Dabei steht GIMPS für die 1996 von George Woltman begründete „Great Internet Mersenne Prime Search“; die angegebene Primzahl wurde 2018 von Patrick Laroche gefunden. Die Mersenne-Zahlen sind die Zahlen der Form

Mn  =  2n − 1  für n ≥ 1.

Sie sind klassische Kandidaten für Primzahlen. Ist Mn prim, so heißt Mn eine Mersenne-Primzahl. Hierfür ist es notwendig, dass der Exponent n selbst prim ist. Denn ist n = k · m mit k, m ≥ 1, so gilt mit a = 2k, dass

2n − 1  =  2km − 1 =  (2k)m − 1  =  am − 1  =  (a − 1) (am − 1 + am + …  +  a1 + 1),

wie sich der Leser durch Ausmultiplizieren der rechten Seite vor Augen führen möge. Diese Rechnung zeigt, dass Mn im Fall a > 2 zusammengesetzt ist, d. h. wenn k > 1. Folglich kann Mn nur dann prim sein, wenn n prim ist. Die Umkehrung ist nicht gültig. Die Zahlen

M2  =  22 − 1  =  3,  M3  =  23 − 1  =  7,  M5  =  25 − 1  =  31,  M7  =  127

sind prim. Jedoch gilt M11 = 211 − 1 = 2047 = 23 · 89.

Insgesamt halten wir fest: Das spielerische Experimentieren führt nicht nur zu einer Vertrautheit mit Objekten und Notationen, sondern auch zu mathematischen Entdeckungen und Fragen.

Didaktische Fragen

 Viele Leser und viele Studenten der Mathematik wünschen sich viele Beispiele. Helfen diese Beispiele? Und wenn ja: Wie helfen Sie? Den uneingeschränkten didaktischen Wert von Beispielen kann man durchaus anzweifeln, da durch ausgearbeitete Beispiele der Leser nicht mehr aufgefordert ist, sich einen mathematischen Begriff oder Satz eigenständig anzueignen. Es ist von vorneherein nicht klar, dass es langfristig besser ist, wenn dieser Aneignungsprozess durch Beispiele allzu sehr erleichtert wird. Sich in Eigenregie Beispiele und Gegenbeispiele zu einem Begriff, einem Satz oder einem Beweis zu überlegen und mit ihnen zu spielen und zu experimentieren ist ein Eckpfeiler des mathematischen Arbeitens. Weiter braucht das Durcharbeiten von Beispielen Zeit, die vielleicht besser in das Studium von zentralen Beweisen fließen sollte. Diesen berechtigten Einwänden stehen viele positive Aspekte gegenüber, und das eigenständige Erstellen von Beispielen muss man ja auch erst einmal lernen − anhand von Beispielen. Man wird viele Leser verlieren, wenn man mit Beispielen knausert. Sie können eine Machete im Dschungel der Abstraktion sein. Kurzum: Beispiele sind oft gut und meistens auch schön, aber wie immer nur mit Eigenarbeit. Auch dieses Buch enthält viele Beispiele. Der Autor rät, sie nicht nur als Ausstellung, durch die man erfreut, aber passiv schlendert, zu betrachten. Erst wenn sie das Interesse fördern und zur Eigenarbeit anregen haben sie ihren Zweck erfüllt.

 Neben den einfachen illustrierenden Beispielen gibt es Beispiele, die zum mathematischen Grundwissen gehören und daher ein Recht auf eine explizite Behandlung geltend machen können. Sie sind mehr als nur Schmuck und Erläuterung. Sie bereichern die Theorie und werden zum Ausgangspunkt für weitere Fragen und Untersuchungen. Im Umfeld der Primzahlen wären die oben schon erwähnten Euklidischen Zahlen zu nennen. In der Analysis gehören die nicht differenzierbare Betragsfunktion und die nicht integrierbare Dirichletsche Sprungfunktion zu diesem Typ.

Die logische Stellung von Beispielen

 Ihrer mathematischen Natur nach sind Beispiele und Gegenbeispiele letztendlich Sätze − und also im Trio „Definition, Satz, Beweis“ enthalten. Die Aussagen

„Die Zahl 2 ist eine Primzahl.“

„Die Zahl 10 ist eine zusammengesetzte Zahl.“

sind beweisbar und damit Sätze. Sie werden aber nicht als Sätze empfunden. In der Organisation und Darstellung des mathematischen Wissens verdienen die Beispiele sicher eine eigene Kategorie. Analoges gilt für die Experimente. Die Aussage

„Genau 34 der Zahlen von 1 bis 100 sind in der Form 2k 3m darstellbar.“

ist ein mathematischer Satz.

 Beispiele und Experimente dieser Art liefern vielleicht keine interessanten Sätze, die wir anderswo anwenden könnten, aber sie können uns in spielerischer und leichter Form die mathematische Wirklichkeit ein Stück weit vor Augen führen, bevor wir beginnen, sie durch eine systematische Theorie tiefer zu ergründen.