5.Die Eins als Primzahl

 In unserer Definition haben wir die 1 nicht als Primzahl zugelassen:

Definition (Primzahl)

Eine natürliche Zahl n ≥ 2 heißt Primzahl, falls es keinen Teiler d von n gibt mit 1 < d < n.

 Die dominierende Eigenschaft einer Zahl n, im Bereich der natürlichen Zahlen nur durch die Eins und durch sich selbst teilbar zu sein, trifft offenbar auch für die Eins zu. Wir können die 1 nicht in einer echten Weise multiplikativ zerlegen. Warum sollte die Eins also nicht als Primzahl gelten?

 Zunächst gilt: Mathematische Definitionen sind prinzipiell völlig frei. Wir könnten also auch erst Zahlen größergleich 7 als Primzahlen bezeichnen und damit die Zahlen 2, 3, 5 genauso diskriminieren wie die 1. Jeder kann definieren was er möchte. Die Frage ist, ob es die anderen interessiert! Wir könnten zum Beispiel definieren:

Definition (Primuszahl)

Eine natürliche Zahl n ≥ 7 heißt Primuszahl, falls es keinen Teiler d von n gibt mit 1 < d < n.

 Der Begriff einer Primuszahl wird den Begriff einer Primzahl nicht verdrängen. Mathematiker empfinden die Einschränkung „≥ 7“ als derart hinderlich, dass sie die Definition nicht aufgreifen werden. Uninteressant, unnatürlich, unschön. Die vielleicht komplexeste Wissenschaft der Welt möchte eines nicht haben: Unnötige Komplexität.

 Bei der prinzipiellen Freiheit der Definitionen ist es bemerkenswert, dass es in der Mathematik so gut wie keine Lager gibt, die in endlosen Disputen darüber streiten würden, welche Definition die bessere sei. Die mehrere Jahrtausende umfassende Geschichte der Mathematik zeigt, dass Definitionen in ihrem Kern von einem überwältigenden Konsens von Generation zu Generation weitergegeben werden. Aber die Geschichte zeigt auch, dass Definitionen in ihren Details durchaus wandelbar und verhandelbar sind. Die Primzahlen sind ein Paradebeispiel dafür. Bei den alten Griechen und Arabern fing das Zählen oft erst bei der Zahl 2 an, sodass sich die Frage, ob die Einheit Eins eine Primzahl sei, gar nicht stellte. Gilt die Eins nicht als Zahl, so gilt sie sicher auch nicht als Primzahl. Als die Eins im Laufe des Mittelalters und der Neuzeit durch einen allgemeinen Konsens als vollwertige natürliche Zahl angesehen wurde, stellte sich in natürlicher Weise die Frage, ob sie als Primzahl gelten solle oder nicht. Und bis ins 19. Jahrhundert hinein war die Antwort oft positiv. Viele Primzahltafeln dieser Zeit beginnen mit

1, 2, 3, 5, 7, 11, …

Erst im 20. Jahrhundert setzte es sich nach und nach durch, die Eins nicht als Primzahl anzusehen. Als Grund geben viele Mathematiker an, dass es bei der Formulierung von Sätzen über Primzahlen oft hinderlich wäre, die Eins als Primzahl mit dabei zu haben. Der Fundamentalsatz der Zahlentheorie besagt zum Beispiel, dass die Primfaktorzerlegung einer natürlichen Zahl bis auf die Reihenfolge der Faktoren eindeutig ist:

12  =  2 · 2 · 3  =  22 · 3.

Würde die Eins als Primzahl gelten, könnten wir schreiben:

12  =  2 · 2 · 3  =  1 · 2 · 2 · 3  =  1 · 1 · 2 · 2 · 3  =  …

Wir müssten also die Eins bei der Diskussion der Primfaktorzerlegung ausnehmen. Diese Situation taucht auch an vielen anderen Stellen auf, etwa beim Sieb des Eratosthenes (die echten Vielfachen der Zahl 1 würden bereits alle Zahlen größergleich 2 darstellen), sodass es der Mehrheit der Mathematiker schließlich besser erschien, die Eins nicht als Primzahl anzusehen. Das kann sich prinzipiell wieder ändern.

 Es gibt zahlreiche Beispiele über „verhandelbare Details“ einer Definition:

Ist die 0 eine natürliche Zahl?

Bilden drei Punkte, die auf einer gemeinsamen Geraden liegen, ein Dreieck?

Gibt es eine Funktion von der leeren Menge in die leere Menge?

Besitzt der Nullpunkt Polarkoordinaten?

Messen wir Winkel besser im Intervall [ 0, 2π [ oder im Intervall ] −π, π]?

Bei der Beantwortung dieser Fragen durch Konsensbildung kommt es auch darauf an, ob eine neue Definition mit bestehenden Definitionen und Sichtweisen harmoniert. Sichtweisen können kontextabhängig sein. Die 0 gilt zum Beispiel in der Mengenlehre, Logik, Algebra und Informatik überwiegend als natürliche Zahl, in der klassischen Zahlentheorie fängt man nach wie vor oft bei der 1 mit dem Zählen an.

 Die Harmonie mit anderen Definitionen zeigt sich besonders schön an der dritten Frage über die leere Menge. Aus algebraischer Sicht sind die Potenzen 0n = 1 und speziell 00 = 1 sinnvoll, der Leser denke an Rechenregeln wie zum Beispiel 2n/2m = 2n − m, was ja im Fall n = m sicher 1 ergeben soll. Dies steht in bemerkenswerter Harmonie mit einem Satz der Mengenlehre:

Satz

Seien n, m natürliche Zahlen. Dann gibt es genau nm viele Funktionen von der Menge { 1, …, m } in die Menge { 1, … n }.

 Wir beweisen diesen Satz durch ein typisches kombinatorisches Zählargument:

Beweis

Um eine von Funktion von A = { 1, …, m } nach B = { 1, …, n } zu definieren, können wir der 1 ein beliebiges Element von B zuordnen, und das Gleiche gilt für 2, …, m. Wiederholungen sind erlaubt, sodass wir insgesamt m mal die Wahl aus jeweils n Elementen haben. Verschiedene Wahlen führen zu verschiedenen Funktionen, sodass es genau n · n … · n (mit m Faktoren) viele Möglichkeiten gibt.

Wenn wir, wie in der Mengenlehre üblich, die leere Menge als Funktion von der leeren Menge { } in die leere Menge { } zulassen, so gilt dieser Satz auch für den Spezialfall n = m = 0. Dadurch ergibt sich eine vollständige Übereinstimmung mit den Potenzgesetzen der Algebra. Die Setzung von 00 = 1 ist also sowohl aus algebraischer als auch aus kombinatorischer Sicht sinnvoll.

 Allgemein gilt: Eine Reduzierung von Ausnahmen ist immer willkommen, da Ausnahmen Beweise verlängern und zu unschönen Fallunterscheidungen führen können, die den Blick auf das Wesentliche verstellen.