1. Das Ergebnis
Der Satz des Euklid lautet:
Satz (Unendlichkeit der Primzahlen)
Es gibt unendlich viele Primzahlen.
Sätze sind mathematische Aussagen, für die ein Beweis vorliegt. Ein Satz führt keine neuen Begriffe ein und er darf nur bereits definierte Begriffe enthalten. Ebenso enthält ein Satz keine Argumente, warum er gelten sollte. Er formuliert nur das Resultat.
Ein Satz kann einen Namen haben, der das Ergebnis zusammenfasst oder mit einem Mathematiker in Verbindung bringt. Der Leser denke etwa an „Höhensatz“, „Satz des Pythagoras“ oder „Zwischenwertsatz“. Oft finden sich auch Nummerierungen wie „Satz 7“ oder „Satz 1. 5“, mit deren Hilfe der Satz innerhalb eines Textes zitiert werden kann. Viele wichtige Sätze haben jedoch Namen. Sie betonen die herausragende Stellung des Ergebnisses und erleichtern das textunabhängige Zitieren.
Neben „Satz“ verwenden Mathematiker auch „Theorem“, „Hauptsatz“, „Proposition“, „Lemma“ oder „Korollar“, wobei die Unterscheidungen fließend sind und von Autor zu Autor unterschiedlich verwendet werden. Manche Autoren bezeichnen jedes Ergebnis einfach als Satz. Grob gesprochen gilt: Ein Theorem oder Hauptsatz ist ein besonders wichtiges Ergebnis. Eine Proposition ist ein spezieller vorbereitender Hilfssatz. Ein Lemma ist ein Hilfssatz mit allgemeinerem Wert, eine Art Werkzeug. Ein Korollar schließlich ist ein „Geschenk“ (lateinisch „corollarium“), das sich unmittelbar oder mit einem sehr kurzen Beweis aus anderen Sätzen ergibt. Wir betrachten einige Beispiele.
Ein Lemma zum Satz des Euklid könnte lauten:
Lemma (Plus-Eins-Lemma)
Seien a1, …, an ≥ 2 natürliche Zahlen, und sei a = a1 · … · an + 1. Dann ist die Zahl a durch keine der Zahlen a1, …, an teilbar.
Beweis
Sei k = a2 · … · an. Dann gilt
a = a1 · a2 · … · an + 1 = a1 · k + 1 = k · a1 + 1.
Wegen a1 ≠ 1 besitzt also a den Rest 1 bei der Division durch a1, sodass a nicht durch a1 teilbar ist. Analoges gilt für die Zahlen a2, …, an.
Dieses Lemma kann nun im Beweis des Satzes von Euklid verwendet werden. Die Zahlen a1, …, an sind dann die betrachteten Primzahlen p1, …, pn. Im Plus-Eins-Lemma wird nicht vorausgesetzt, dass die betrachten Zahlen prim sind. Das Lemma ist allgemeiner formuliert. Dies ist ein Merkmal vieler Ergebnisse der Mathematik: Die Voraussetzungen eines Ergebnisses sind in aller Regel so schwach wie möglich, damit das Ergebnis so flexibel wie möglich eingesetzt werden kann. Die Voraussetzung „Seien a1, …, an ≥ 2 natürliche Zahlen“ ist schwächer als „Seien a1, …, an Primzahlen“. Unser Lemma wird dadurch stärker. Mathematiker haben fast schon ein schlechtes Gewissen, wenn sie stärkere Voraussetzungen und schwächere Konklusionen angeben als möglich. Didaktisch ist das nicht immer sinnvoll und man kann alles übertreiben, aber das Streben nach Allgemeinheit ist ein charakteristisches Merkmal der Mathematik wie das damit eng verwandte Streben nach Abstraktion. Die Mathematik würde aufhören, Mathematik zu sein, wenn man ihr das nehmen wollte. Bereits das Zählen 1, 2, 3, … ist allgemein und abstrakt.
Statt „Lemma“ hätten wir auch von „Proposition“ sprechen können, da das Ergebnis den Satz des Euklid vorbereitet. Wie erwähnt gibt es hier keine klaren Unterscheidungen. Werden Teile aus einem längeren Beweis ausgelagert und in in der Form von Zwischenergebnissen präsentiert, so bietet sich „Proposition“ an. Ist ein solches Teilergebnis vielleicht später noch einmal verwendbar und sogar allgemeiner als nötig, so würde man eher von einem „Lemma“ sprechen. Da man nie genau wissen kann, was später noch nützlich sein wird, ist „Lemma“ häufiger zu finden als „Proposition“.
Ein Beispiel für ein Korollar zum Satz des des Euklid wäre etwa:
Korollar
Es gibt eine Primzahl, die größer ist als 101.000.000.000.
Dies folgt unmittelbar aus dem Satz des Euklid. Insbesondere gibt eine Primzahl, die größer ist als die Mersenne-Primzahl 282589933 − 1, die der derzeitige Rekordhalter unter den bekannten Primzahlen ist.
Der Beweis eines Korollars kann neben dem neuen Ergebnis auch andere bekannte Ergebnisse heranziehen. Wichtig ist, dass der Beweis kurz ist. Im Gegensatz zu unserem nicht besonders aufregenden Beispiel haben Korollare oft einen gewissen Aha-Effekt. Ein liebe- und effektvoll präsentiertes Geschenk.
Varianten
Wie bei den Definitionen gibt es viele verschiedene äquivalente Möglichkeiten, einen Satz zu formulieren. Wir betrachten einige davon.
Satz (Unendlichkeit der Primzahlen, II)
Es gibt keine größte Primzahl.
Diese Formulierung verwendet den Begriff „unendlich“ nicht mehr. Sie ist in diesem Sinne weniger beeindruckend, aber dafür auch einfacher. Wie jeder Begriff muss „unendlich“ erst definiert werden. Die Definition der Unendlichkeit ist eine Aufgabe der Mengenlehre, und hier gibt es überraschend viel zu entdecken: Verschiedene äquivalente Definitionen der Unendlichkeit, überraschende Größenunterschiede im Unendlichen und nachweislich unbeantwortbare Fragen über das Unendliche. Für die Zahlentheorie genügt ein naiver Unendlichkeitsbegriff, und die Formulierung durch
„Es gibt keine größte Zahl mit einer bestimmten Eigenschaft“
zeigt, dass der allgemeine Unendlichkeitsbegriff gar nicht verwendet werden muss. Es ist bequem, ihn zu verwenden, aber es ist nicht essentiell. Ist
A = { n ∈ ℕ | ℰ(n) }
die Menge aller natürlichen Zahlen n mit der Eigenschaft ℰ(n), so können wir die Aussage
„Die Menge A ist unendlich.“
gleichwertig formulieren durch
„Für jede natürliche Zahl n gibt es eine Zahl m > n mit der Eigenschaft ℰ.“
Von Mengen ist hier nach dieser Umformulierung gar nicht mehr die Rede. Für unseren Satz ergibt sich:
Satz (Unendlichkeit der Primzahlen, III)
Für jede natürliche Zahl n gibt es eine Primzahl p mit p > n.
Hier wird nur noch die Kleiner-Relation auf den natürlichen Zahlen und der Begriff einer Primzahl verwendet. Allgemein gilt: In der elementaren Zahlentheorie ist die Mengenlehre nützlich, aber prinzipiell verzichtbar. Sie vereinfacht viele Sprechweisen, aber von den tiefen Problemen, die unendliche Mengen in einem ideellen Mengenuniversum mit sich bringen, ist die elementare Zahlentheorie frei.
Vielleicht wird der Leser die folgende Version bevorzugen, die wie zahlreiche Definitionen die charakteristische Form „Sei …“, verwendet, um die Aussage des Satzes klarer zu strukturieren: „Was ist gegeben?“ (Voraussetzung des Satzes) und „Was gilt in dieser Situation?“ (Konklusion des Satzes).
Satz (Unendlichkeit der Primzahlen, IV)
Sei n eine natürliche Zahl. Dann gibt es eine Primzahl p mit n < p.
Wir könnten hier auch schreiben: „Sei n eine beliebige natürliche Zahl“ oder „Sei n eine beliebig große natürliche Zahl“, um zu betonen, dass es uns um die Existenz von Primzahlen geht, die größer sind als irgendeine fest vorgegebene Zahl, so groß diese auch sein mag.
Weiter betrachten wir:
Satz (Unendlichkeit der Primzahlen, VI)
Sei n ≥ 1, und seien p1, …, pn Primzahlen. Dann gibt es eine Primzahl p, die von allen Primzahlen p1, …, pn verschieden ist.
Im Beweis von Euklid finden wir mit Hilfe der gegebenen Primzahlen p1, …, pn eine weitere Primzahl, indem wir einen Primfaktor des um Eins erhöhten Produkts der Primzahlen betrachten. Diese Formulierung des Satzes ist damit bereits auf den Beweis hin zugeschnitten. Der Beweis wird dadurch kürzer und es wird von vorne herein deutlich, welche Strategie der Beweis verfolgt.
Wir können den Satz schließlich auch ganz ohne die Verwendung mathematischer Symbole formulieren:
Satz (Unendlichkeit der Primzahlen, VII)
Sind endliche viele Primzahlen in beliebiger Anzahl gegeben, so gibt es eine von diesen Primzahlen verschiedene Primzahl.
Mathematische Symbole lassen sich wie Begriffe auflösen, indem wir ihre Definitionen einsetzen. Wir können sie wieder als Abkürzungen ansehen, die sich prinzipiell bis zu den Axiomen zurückverfolgen lassen. In Beweisen ist es in den meisten Fällen aber unerlässlich, den mathematischen Objekten Namen zu geben und mit der Kraft der mathematischen Symbole zu argumentieren. Es bietet sich daher an, bereits in der Formulierung eines Satzes die Objekte zu benennen und entsprechende Notationen zu verwenden.
Die Mathematik kennt sehr viele Symbole und mathematische Texte sind voller Sonderzeichen, die für den Uneingeweihten abschreckend wirken können. In der Kommunikation von Mathematik stellen sie nicht nur eine psychologische, sondern auch eine technologische Herausforderung dar. Von der Erfindung des Buchdrucks bis hin zur Darstellung im Internet hat die Mathematik eine aufwendige Sonderbehandlung beansprucht. Man kann darüber streiten, ob eine traditionelle Symbolik wie die Wurzelnotation wirklich besser ist als ein Ausdruck der Form sqrt(x), und ob nicht allgemein der lateinisch-griechische Zeichensatz einer „erweiterten Schreibmaschine“ oder Computer-Tastatur für die Mathematik genügt hätte. Aber die Mathematik wird ihrer Natur folgend immer Symbole verwenden. Sie verleihen ihren Texten bei aller logischen Strenge und Klarheit eine magische Aura.