2.Euklidische Zahlen

Das spielerische Experimentieren, Untersuchen und Hinterfragen hört in der Mathematik nicht auf, wenn ein Satz bewiesen ist. Im Gegenteil. Wir betrachten unseren Satz und seinen Beweis noch einmal in Kurzform:

Satz (Unendlichkeit der Primzahlen)

Sei n ≥ 1, und seien p1, …, pn Primzahlen. Dann gibt es eine Primzahl p, die von allen Primzahlen p1, …, pn verschieden ist.

Beweis

Wir setzen

a  =  p1 · … · pn  +  1.

Dann ist jeder Primteiler von a von p1, …, pn verschieden.

 Der neugierige Leser wird sich vielleicht gefragt haben, ob und wann die Zahl a selbst prim ist. Der Beweis gibt keine Information hierzu. Er zeigt nur, dass jeder Primteiler von a von den gegebenen Primzahlen p1, …, pn verschieden ist, und dass also eine endliche Folge von Primzahlen niemals alle Primzahlen enthalten kann. Die Frage, ob und wann a prim ist, bleibt offen.

 Um uns dem Problem zu nähern, experimentieren wir. Die Folge p1, …, pn ist beliebig. Es ist also nicht nötig, dass die Primzahl 2 in der Folge vorkommt. Ist dies nicht der Fall, so sind alle Primzahlen p1, …, pn ungerade (da die 2 die einzige gerade Primzahl ist). Da das Produkt endlich vieler ungerader Zahlen immer ungerade ist, ist in diesem Fall p1 · … · pn ungerade und damit a gerade. Damit ist also a keine Primzahl, wenn wir die 2 auslassen.

 Wie steht es, wenn wir die 3 auslassen? Betrachten wir p1 = 2, p2 = 5, so erhalten wir a = 2 · 5 + 1 = 11. In diesem Fall ist also a prim. Für p1 = 2, p2 = 7 ergibt sich a = 2 · 7 + 1 = 15, eine zusammengesetzte Zahl, die durch die ausgelassenen Primzahlen 3 und 5 teilbar ist. Für p1 = p2 = 2 ist a = 5 (prim), für p1 = p2 = p3 = 2 ist a = 9 (zusammengesetzt).

 Wir sehen: Die Zahl a = p1 · … · pn + 1 kann prim sein oder auch nicht. Es ist keine einfache Regel erkennbar, mit der wir entscheiden könnten, ob diese Zahl prim oder zusammengesetzt ist. Durch das genauere Studium des Beweises sind wir auf ein neues mathematisches Problem gestoßen. Die Mathematik ernährt sich, frei nach Wallenstein, selbst.

 Besonders natürliche Primzahlfolgen p1, …, pn erhalten wir, wenn wir keine Primzahlen auslassen und keine Primzahlen mehrfach verwenden. Es ergeben sich die Zahlen

2  +  1  =  3

2 · 3  +  1  =  7

2 · 3 · 5  +  1  =  31

2 · 3 · 5 · 7  +  1  =  211

2 · 3 · 5 · 7 · 11  +  1  =  2311

Die Zahlen 3, 7, 31, 211, 2311 sind alle prim! Was für die ersten fünf Primzahlen stimmt, könnte für alle Primzahlen stimmen. Wir wagen also:

Hypothese

Sei n ≥ 1 beliebig, und seien p1, …, pn die ersten n Primzahlen. Dann ist die Zahl a = p1 · … · pn + 1 prim.

 Eine Hypothese wird in der Mathematik immer in zwei Richtungen verfolgt: (1) Wir versuchen, die Hypothese zu beweisen. (2) Wir versuchen, die Hypothese zu widerlegen. Es ist von vorneherein klar, dass einer der beiden Versuche verlorene Liebesmüh ist. Damit muss ein Mathematiker leben. Entdecken können wir bei beiden Versuchen etwas.

 In unserem Fall ist ein Beweis der Hypothese nicht gelungen. Dagegen ist schon das nächste Beispiel

2 · 3 · 5 · 7 · 11 · 13  +  1  =  30031

geeignet, unsere Hypothese zu Fall zu bringen. Es gilt nämlich, was alles andere als offensichtlich ist, dass 30031 = 59 · 509. Die Hypothese muss also verworfen werden. Wir haben ein Gegenbeispiel gefunden. Die Fragen sind damit aber keineswegs verschwunden. Wir definieren:

Definition (Euklidische Zahlen)

Eine Zahl a der Form a = p1 · … · pn + 1 mit den ersten n Primzahlen p1, …, pn heißt eine Euklidische Zahl. Ist eine Euklidische Zahl prim, so heißt sie eine Euklidische Primzahl.

Die Zahlen 3, 7, 31, 211, 2311 sind Euklidische Primzahlen. Die Euklidische Zahl 30031 ist keine Euklidische Primzahl. Die nächstgrößere Euklidische Primzahl ist 2 · … · 31 + 1 = 200560490131. Es ist ein offenes Problem, ob es unendlich viele Euklidische Primzahlen gibt. Die Hypothese „Es gibt unendlich viele Euklidische Primzahlen.“ ist weder bewiesen noch widerlegt. Ist das nicht großartig? Jeder, der mit der Frage in Berührung kommt, darf sagen: „Die sind also alle nicht schlau genug, das zu lösen. Also darf ich es versuchen.“ Die gesamte Gemeinschaft von Mathematikern sagt: „Wir bitten darum!“