8. Die Chebychev-Identität
Den Satz von Legendre können wir in der folgenden Form notieren:
Satz (Satz von Legendre, Produktform)
Sei n ≥ 1. Dann gilt:
n! = ∏pe ≤ n/d p (= ∏(p, d, e) mit: p prim, 1 ≤ d ≤ n, e ≥ 1, pe ≤ n/d p).
Wir verwenden im Folgenden häufig derartige Kurzformen für Produkte und Summen. Speziell bezeichnet ein Index p stets eine Primzahl.
Beweis
Nach unserer Geradenzählung gilt für jede Primzahl p ≤ n:
exp(n!) = ∑d ≤ n |Gd| = ∑d ≤ n |{ e ≥ 1 | pe ≤ n/d }|.
Hieraus folgt die Behauptung.
Wir geben noch ein zweites Argument, das die Untersuchung der Geraden Gd nicht voraussetzt.
Zweiter Beweis
Sei p prim. Ist e ≥ 1, so gibt es genau ⌊n/pe⌋ viele d ≤ n mit dpe ≤ n, d. h. pe ≤ n/d. Jedes e ≥ 1 trägt also genau ⌊n/pe⌋ viele Faktoren p zum Produkt des Satzes bei. Nach dem Satz von Legendre gilt
exp(n!) = ∑e ≥ 1 ⌊n/pe⌋.
Damit enthält das Produkt
∏e ≥ 1 ∏p, d mit pe ≤ n/d p
genau exp(n!) Faktoren p. Dieses Produkt ist gleich dem Produkt des Satzes, sodass die Behauptung gezeigt ist.
Der Leser betrachte noch einmal die Diagramme des vorangehenden Essays, um sich vor Augen zu führen, dass in der Produktform jeder Punkt (für jede Primzahl p ≤ n) genau einmal gezählt wird.
Anwendung des Logarithmus
Aufgrund der Additivitätseigenschaft
log(ab) = log(a) + log(b) für alle a, b > 0
können Produkte durch Anwendung des Logarithmus in Summen verwandelt werden, was oft angenehmer und intuitiver ist. Prinzipiell ist dieser Schritt nicht nötig, und der Leser kann die Logarithmen als Vereinfachung der Notation ansehen (er wird sie vielleicht bald nicht mehr missen wollen). Durch die Anwendung der Exponentialfunktion exp : ℝ → ℝ (zur Basis e) kann eine Summe wieder in ein Produkt überführt werden. Wir verlieren also keine Information.
Hier und im Folgenden bezeichnet log : [ 0, ∞ [ → ℝ immer den natürlichen Logarithmus zur Basis e. Andere Logarithmen bezeichnen wir mit logb, etwa log2 oder log10. Auch diese Logarithmen erfüllen die Additivitätseigenschaft. Aber die Basis e ist in der Zahlentheorie wie in vielen anderen Bereichen der Mathematik die erste Wahl. Bei der Diskussion des Primzahlsatzes wird dies besonders deutlich werden. Auch die Primzahlen hängen eng mit e zusammen.
Ist n ≥ 1, so gilt
log(1 · 2 · … · n) = log(n!) = ∑k ≤ n log(k) = log(1) + log(2) + … + log(n).
Die Partialsummen der Folge log(1), log(2), log(3), … sind also die logarithmischen Versionen der Fakultäten.
Wenden wir den Logarithmus auf die Produktform des Satzes von Legendre an, so erhalten wir
Satz (Satz von Legendre, logarithmische Form)
Sei n ≥ 1. Dann gilt:
∑k ≤ n log(k) = log(n!) = ∑pe ≤ n/d log(p)
Produkte sind durch Summen ersetzt, und an die Stelle der Primzahlen sind ihre Logarithmen getreten: log(p) spielt nun die Rolle von p.
Wir wollen die Summe auf der rechten Seite noch weiter umformen. Hierzu definieren wir zwei fundamentale Funktionen der Zahlentheorie:
Definition (Lambda-Funktion und Psi-Funktion)
Wir definieren die von Mangoldt-Funktion Λ : ℕ* → ℝ und die Chebychev-Funktion ψ : [ 1, ∞ [ → ℝ wie folgt: Ist p prim und k ≥ 1, so setzen wir
Λ(pk) = log(p).
Für alle anderen n ≥ 1 setzen wir
Λ(n) = 0.
Damit definieren wir nun
ψ(x) = ∑n ≤ x Λ(n) für alle x ≥ 1.
Es gilt ψ(x) = ψ(⌊x⌋) für alle x ≥ 1, sodass wir uns auf natürliche Zahlen beschränken könnten. Durch den allgemeineren Definitionsbereich können wir uns die Floor-Funktion sparen, etwa bei einer Halbierung: ψ(n/2) ist einfacher in der Notation als ψ(⌊n/2⌋).
Nach Definition gilt
ψ(x) = ∑pe ≤ x log(p).
Diese Summe lässt sich so beschreiben: Wir suchen das Intervall von 1 bis x nach Primzahlpotenzen ab. Finden wir eine Primzahlpotenz pe, so ignorieren wir den Exponenten e und erhöhen unsere Summe um log(p). Alle anderen Zahlen werden übersprungen. Dass die Exponenten ignoriert werden, mag überraschen. Der Leser vergleiche aber die Produktform des Satzes von Legendre: Auch hier multiplizieren wir Primzahlen p auf, nicht Primzahlpotenzen pe. Bei der Zählung der Faktoren spielen aber die Primzahlpotenzen eine wichtige Rolle. Ohne sie würden wir in unseren Diagrammen zum Satz von Legendre nur die unterste Zeile betrachten und die Fakultät damit unterschätzen.
Mit Hilfe der neuen Funktionen erhalten wir:
Satz (Chebychev-Identität, Summenformel für die Psi-Funktion)
Sei n ≥ 1. Dann gilt:
log(n!) = ∑d ≤ n ψ(n/d).
Allgemeiner gilt
log(⌊x⌋!) = ∑d ≤ x ψ(x/d) für alle x ≥ 1.
Beweis
Nach der logarithmischen Form des Satzes von Legendre gilt
log(n!) | = ∑d ≤ n ∑pe ≤ n/d log(p) |
= ∑d ≤ n ∑m ≤ n/d Λ(m) | |
= ∑d ≤ n ψ(n/d). |
Für die zweite Aussage sei x ≥ 1 beliebig. Wir setzen n = ⌊x⌋. Dann gilt nach dem bereits Gezeigten, dass
log(⌊x⌋!) | = log(n!) |
= ∑d ≤ n ψ(n/d) = ∑d ≤ x ψ(⌊n/d⌋) | |
= ∑d ≤ x ψ(⌊x/d⌋) = ∑d ≤ x ψ(x/d). |
Hierbei verwenden wir, dass ⌊n/d⌋ = ⌊x/d⌋ für alle d ≥ 1. Dies folgt aus n = ⌊x⌋ und daraus, dass es genauso viele Vielfache von d im Intervall von 1 bis ⌊x⌋ gibt wie im Intervall von 1 bis x.
Die Chebychev-Identität ist letztendlich nichts anderes als die logarithmische Form des Satzes von Legendre in der Version der Geradenzählung. Die Produktform
n! = ∏d ≤ n ∏pe ≤ n/d p
führt durch Anwendung des Logarithmus zu
log(n!) = ∑d ≤ n ∑pe ≤ n/d log(p) = ∑d ≤ n ψ(n/d).
Der Zusammenhang wird noch deutlicher, wenn wir eine Funktion ψ* einführen mit
ψ*(x) = ∏pe ≤ x p für alle x ≥ 1.
Dann lautet der Satz von Legendre
n! = ∏d ≤ n ψ*(n/d).
In der Zahlentheorie wird aber üblicherweise mit der logarithmischen Version gearbeitet.
Unsere Geradenzählung zeigte, dass für alle n, p, d gilt:
∏pe ≤ n/d p = p|Gd|.
Anwendung des Logarithmus liefert:
Satz (Berechnungsformel für ψ(x/d))
Für alle x ≥ 1 und d ≤ x gilt (mit den Bezeichnungen wie im letzten Essay):
ψ(x/d) = ∑p ≤ x |Gd| log(p) = ∑p ≤ x ⌊log(x/d)log(p)⌋ log(p).
Die Identität von ψ(x/d) mit der Summe rechts lässt sich auch direkt einsehen: Denn für alle p ist die Zahl
⌊log(x/d)log(p)⌋
die Anzahl der Potenzen pe mit pe ≤ x/d, und diese Anzahl gibt an, wie oft der Summand log(p) in ψ(x/d) vorkommt.
Unsere Diagramme zum Satz von Legendre bleiben auch für die ψ-Funktion wertvoll, wobei nun jeder Punkt log(p) zur Gesamtsumme beiträgt. Nach den Überlegungen zum Satz von Legendre entspricht ψ(x/d) für jedes d ≥ 1
(1) | den Punkten auf der Geraden gd mit Steigung 1/d, |
(2) | den Punkten auf der Hauptdiagonalen g1 bis x/d. |
Wir werden die Funktionen Λ und ψ später noch genauer untersuchen und weitere Beweise für die Chebychev-Identität kennenlernen. An dieser Stelle begnügen wir uns mit einer graphischen Darstellung des Verlaufs von ψ.
Verlauf der ψ-Funktion bis x = 50
Die Sprünge von ψ sind durch die von Mangoldt-Funktion Λ gegeben: An einer Primzahlpotenz pk springt ψ um Λ(pk) = log(p). Die Primzahlpotenzen 2, 4, 8, 16, … der 2 führen zu kleinen Sprüngen um log(2), die Primzahlpotenzen 3, 9, 27, … der 3 zu etwas größeren Sprüngen um log(3) usw. Ein Sprung an einer Stelle pk ist genau dann größer als alle bisherigen Sprünge, wenn k = 1, also die Stelle prim ist. In Intervallen ohne Primzahlpotenzen ist die Funktion ψ konstant. Im Diagramme sind diese Eigenschaften zum Beispiel für den großen Sprung bei 31, den kleinen Sprung bei 32 und die Konstanz zwischen 32 und 37 schön zu sehen.
Hinsichtlich der Größenordnung der ψ-Funktion lässt sich durch das Diagramm vielleicht ein lineares Wachstum mit Steigung 1 bereits erahnen. Bei größeren Ausschnitten ist dieses qualitative Wachstum nicht mehr zu übersehen:
Verlauf der ψ-Funktion bis x = 500 (blau) zusammen mit der Identität (gelb)
Der augenfällige lineare Verlauf ist eine alles andere als triviale Eigenschaft der ψ-Funktion: Dass der Quotient ψ(x)/x gegen 1 konvergiert, wenn x gegen unendlich strebt, ist äquivalent zum Primzahlsatz. Wir kommen im Abschnitt über die Verteilung der Primzahlen darauf zurück.