1.Fermat-Zahlen und der Beweis von Christian Goldbach

Wir betrachten nun noch weitere Beweise des Satzes von Euklid über die Unendlichkeit der Primzahlen. Mehrere Beweise eines Satzes im Sinne von „doppelt hält besser“ zu geben ist in der Mathematik prinzipiell nicht nötig, einmal bewiesen ist für immer bewiesen. Gerade bei fundamentalen Ergebnissen ist es aber oft aufschlussreich, verschiedene Argumente zu kennen und miteinander zu vergleichen. Jeder Beweis wirft ein anderes Licht auf den Satz, und ein neuer Beweis eines alten Satzes kann neue interessante Fragen aufwerfen zur Entwicklung neuer Methoden beitragen.

 Viele Beweise des Satzes von Euklid sind Varianten des „Produkt-Plus-Eins“- Arguments. Das vielleicht einfachste andersartige Argument für die Unendlichkeit der Primzahlen verwendet die folgenden Zahlen:

Definition (Fermat-Zahlen)

Sei n ≥ 0. Dann setzen wir

F(n)  =  22n + 1.

Die Zahl F(n) heißt die Fermat-Zahl mit dem Exponenten n. Ist die Zahl F(n) prim, so heißt F(n) eine Fermat-Primzahl.

 Die Fermat-Zahlen sind die Nachfolger von Zweierpotenzen der Form 22n (mit einer Zweierpotenz im Exponenten). Diese Zahlen sind 2n-mal durch 2 teilbar. In diesem Sinne sind die Fermat-Zahlen die Nachfolger von „supergeraden“ Zahlen. Die ersten Fermat-Zahlen berechnen sich zu

F(0)  =  220 + 1  =  2 + 1  =  3

F(1)  =  221 + 1  =  2 · 2 + 1  =  4 + 1  =  5

F(2)  =  222 + 1  =  2 · 2 · 2 · 2 + 1  =  16 + 1  =  17

F(3)  =  223 + 1  =  2 · 2 · 2 · 2 · 2 · 2 · 2 · 2 + 1  =  256 + 1  =  257

F(4)  =  224 + 1  =  65536 + 1  =  65537

Diese Zahlen sind alle prim, und Pierre de Fermat hat 1637 vermutet, dass alle Fermat-Zahlen prim sind. Diese Hypothese wurde von Leonhard Euler 1732 widerlegt. Euler fand die Primfaktorzerlegung

F(5)  =  225 + 1  =  4 294 967 297  =  641 · 6 700 417

der Fermat-Zahl mit dem Exponenten 5. Auch die Zahlen F(6) und F(7) sind zusammengesetzt. Ihre Primfaktorzerlegungen lauten:

F(6)  =  226 + 1  =  274177 · 67280421310721

F(7)  =  227 + 1  =  59649589127497217 · 5704689200685129054721.

Allgemein ist bis heute keine weitere Fermat-Primzahl gefunden worden. Die schwächere Hypothese „Es gibt unendlich viele Fermat-Primzahlen“ ist aber offen.

 Obwohl wir nur sehr wenige Fermat-Primzahlen kennen und vielleicht gar keine weiteren Beispiele existieren, können wir die Fermat-Zahlen verwenden, um die Unendlichkeit der Primzahlen zu beweisen. Dies gelang zuerst Christian Goldbach 1730. Er zeigte (in einem Brief an Euler):

Satz (Produktformeln für die Fermat-Zahlen)

Für alle n ≥ 0 gilt:

(a)

F(n + 1) − 2  =  (F(n) − 2) F(n),

(b)

F(n + 1) − 2  =  F(0) F(1) … F(n).

Beweis

zu (a):  Sei n ≥ 0. Dann gilt:

(F(n) − 2) F(n) =  (22n − 1)(22n + 1)
=  (22n)2  −  1
=  22 · 2n − 1
=  22n + 1 − 1  =  F(n + 1) − 2.

Dabei verwenden wir die dritte binomische Formel, die Potenzregeln und die Definition der Fermat-Zahlen.

zu (b):  Nach (a) gilt

F(1) − 2  =  (F(0) − 2) F(0)  =  1 · 3  =  3  =  F(0)

F(2) − 2  =  (F(1) − 2) F(1)  =  F(0) F(1)

F(3) − 2  =  (F(2) − 2) F(2)  =  F(0) F(1) F(2)

F(4) − 2  =  (F(3) − 2) F(3)  =  F(0) F(1) F(2) F(3)

usw. Allgemein zeigt eine Induktion nach n ≥ 0, dass

F(n + 1) − 2  =  F(0) F(1) … F(n).

 Aus den Produktformeln gewinnen wir:

Satz (Teilerfremdheit der Fermat-Zahlen)

Je zwei verschiedene Fermat-Zahlen sind teilerfremd.

Beweis

Seien n < m, und sei d ≥ 1 ein gemeinsamer Teiler von F(n) und F(m). Wir zeigen, dass d = 1. Damit ist nachgewiesen, dass je zwei verschiedene Fermat-Zahlen teilerfremd sind.

Da d ein Teiler von F(n) und n < m ist, ist d ein Teiler von F(0) … F(m − 1) (denn F(n) ist ein Faktor dieses Produkts). Nach Teil (b) des Satzes ist also d ein Teiler von F(m) − 2. Damit ist also d ein Teiler von F(m) und ein Teiler F(m) − 2. Folglich ist d auch ein Teiler von

F(m) − (F(m) − 2)  =  2.

Dies zeigt, dass d = 1 oder d = 2. Da die Zahl F(m) nach Definition ungerade ist, ist d ≠ 2 und damit d = 1.

 Die Folge F(0), F(1), F(2), …, F(n), … ist also eine teilerfremde Folge. Damit erhalten wir:

Korollar (Unendlichkeit der Primzahlen)

Es gibt unendlich viele Primzahlen.

 Wir geben das Argument noch einmal an:

Beweis

Für alle n ≥ 0 sei pn ein Primteiler von F(n). Da je zwei Fermat-Zahlen teilerfremd sind, sind die Primzahlen p0, p1, p2, … paarweise verschieden. Also gibt es unendlich viele Primzahlen.

 Die Fermat-Zahlen wirken aufgrund ihrer Größe bei Erstkontakt oft etwas befremdlich, und die für alle n ≥ 0 gültige Produktformel

F(n + 1) − 2  =  F(0) F(1) … F(n)

muss erst mit Hilfe der binomischen Formeln, der Potenzregeln und einer vollständigen Induktion nachgewiesen werden. Aber wir werden nicht nur mit algebraischen Aha-Effekten belohnt: Die Fermat-Zahlen sind zwar im Allgemeine nicht selbst prim, aber sie sind relativ prim zueinander. Sie haben disjunkte multiplikative Bausteine. Und sie werfen neue Fragen auf, die beantwortet werden wollen.

 Jede unendliche Folge paarweise teilerfremder Zahlen zeigt, dass unendlich viele Primzahlen existieren. Wir können den Beweis von Goldbach umorganisieren, indem wir die rekursive Konstruktion einer derartigen Folge an die Spitze stellen:

Rekursive Konstruktion der Fermat-Zahlen

Wir setzen:

c0  =  3

c1  =  c0  +  2

c2  =  c0 c1  +  2

c3  =  c0 c1 c2  +  2

Allgemein definieren wir rekursiv:

c0 = 3  und  cn + 1  =  c0 … cn + 2  für alle n ≥ 1.

Diese Rekursion können wir griffig so beschreiben:

Multipliziere alles Bisherige und addiere 2.

Unsere Argumentation zeigt, dass die Zahlen c0, c1, c2, … paarweise teilerfremd sind: Sind n, m natürliche Zahlen mit n < m, und ist d ein gemeinsamer Teiler von cn und cm, so ist d = 1 oder d = 2. Da die Zahlen cn ungerade ist, ergibt sich d = 1. Damit ist gezeigt, dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Nachträglich lässt sich nun nachweisen, dass

cn  =  22n + 1  =  F(n)  für alle n ≥ 0.

Die explizite Darstellung in der Form 22n + 1 ist aber für den Beweis, dass es unendlich viele Primzahlen gibt, nicht wesentlich.

 Die rekursive Lesart rückt den Beweis der Unendlichkeit der Primzahlen von Goldbach doch wieder in die Nähe des Beweises von Euklid. Im Essay über teilerfremde Folgen haben wir gesehen, dass Euklids Argument die Rekursion

a1  =  2,

an + 1  =  a1 … an + 1  für alle n ≥ 1

motiviert, die eine teilerfremde Folge a1, a2, a3, … erzeugt (die wiederum eng mit der rekursiven Konstruktion von Saidak zusammenhängt). Ist also der Unterschied, mit der 3 anstelle der 2 zu beginnen und die 2 anstelle der 1 zum Produkt zu addieren, wirklich ausreichend, um von einem neuen Beweis und nicht nur einer weiteren Variante zu sprechen? Dieser Unterschied alleine würde sicherlich nicht genügen. Das Besondere ist, dass sich die Fermat-Zahlen durch einen einfachen Term darstellen lassen. Dies ist bei den Rekursionen, die wir aus dem Beweis von Euklid gewonnen haben, nicht der Fall.

 Ob zwei Beweise äquivalent, ähnlich oder mehr oder weniger verschieden erscheinen, hängt von der Präsentation und letztendlich auch vom persönlichen Geschmack und Wissen ab, und der Leser ist auch in diesem Fall aufgefordert, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Für den Autor gilt: Euklids Beweis bleibt in seiner Kürze und Prägnanz das Maß der Dinge, aber der Beweis von Goldbach ist durch die konkrete Form der Fermat-Zahlen und ihren mathematischen Gehalt doch etwas Neues. Den Satz von Euklid würden wir sicherlich gerne so beweisen: Wir geben unendlich viele Primzahlen mit Hilfe eines einfachen Terms an. Dies ist bis heute nicht gelungen. Der Beweis von Goldbach kommt diesem Ziel aber vielleicht am nächsten: Wir können die Fermat-Zahlen durch den Term 22n + 1 angeben:

3,  5,  17,  257,  65537,  4 294 967 297,  …,  22n + 1,  …

Nun ersetzen wir in dieser Folge jede Zahl durch ihre Primfaktorzerlegung (die Existenz einer Primfaktorzerlegung genügt, die Eindeutigkeit wird für das Argument nicht benötigt). Dadurch ergibt sich eine unendliche Folge von Primzahlen ohne Wiederholungen:

3,  5,  17,  257,  65537,  641,  6 700 417,  …,  Zerlegung von 22n + 1,  …

Bescheidenheit ist auch in der Mathematik wichtig. Wir kennen keinen einfachen Term, der eine unendliche Folge von Primzahlen erzeugt. Aber wir kennen einen einfachen Term, der eine teilerfremde Folge liefert. Und dieses bescheidenere Ziel genügt für die Unendlichkeit der Primzahlen. Ob Variante oder nicht: Schön ist es es in jedem Fall.