2. Der Beweis von Leonhard Euler
Wir diskutieren nun einen auf Leonard Euler (1744) zurückgehenden Beweis der Unendlichkeit der Primzahlen, der unendliche Reihen und Produkte verwendet. Hierzu betrachten wir zunächst die spezielle geometrische Reihe der positiven Potenzen von 1/2:
∑n ≥ 1 12n = 12 + 14 + 18 + … + 12n + …
Diese Reihe hat den Wert 1. Wir können diesen Wert mit Hilfe einer altmodisch organisierten unendlichen Räuberbande veranschaulichen: Der Hauptmann bekommt die halbe Beute. Danach bekommt jeder gemäß seinem Rang die Hälfte von dem, was noch übrig ist. Die ganze Beute wird in dieser Weise verteilt.
Illustration der unendlichen Summe 1/2 + 1/4 + 1/8 + 1/16 + … = 1
Im Kontrast dazu gilt:
Satz (Divergenz der harmonischen Reihe)
Es gilt
∑n ≥ 1 1n = 1 + 12 + 13 + … + 1n + … = ∞.
Die Unendlichkeit der Summe lässt sich mit einem bereits in der Scholastik des Mittelalters gefundenen Argument in einer verblüffend einfachen und anschaulichen Art und Weise beweisen: Wir setzen Klammern derart, dass die Summen innerhalb der Klammern stets größergleich 1/2 sind:
Beweis
Es gilt
11 + 12 + (13 + 14) + (15 + … + 18) + (19 + … + 116) + …
≥ 12 + 12 + (14 + 14) + (18 + … + 18) + (116 + … + 116) + …
≥ 12 + 12 + 12 + … = ∞.
Der Beweis der Unendlichkeit der Primzahlen von Euler verwendet die Divergenz der harmonischen Reihe. Weiter benötigen wir noch die allgemeine Formel für die geometrische Reihe:
Satz (Konvergenz der geometrischen Reihe)
Sei q eine reelle Zahl mit |q| < 1. Dann gilt:
∑n ≥ 0 qn = 1 + q + q2 + … + qn + … = 11 − q.
Beweis
Ausmultiplizieren zeigt, dass
(1 + q + … + qn)(1 − q) = 1 − qn + 1 für alle n ≥ 0.
(Dies gilt für alle reellen Zahlen q.) Wegen |q| < 1 konvergiert die Potenz qn + 1 gegen 0, wenn n gegen unendlich konvergiert. Damit gilt
∑n ≥ 0 qn = limn → ∞ (1 + q + … + qn) = limn →∞ 1 − qn + 11 − q = 11 − q.
Für den Spezialfall q = 1/2 erhalten wir 2 als Wert. Im Vergleich zur oben betrachteten Summe beginnt die Summation hier bei q0 = 1 und nicht bei q1 = 1/2, sodass der Wert der Reihe um 1 erhöht ist.
Wir betrachten nun eine Primzahl p. Dann gilt |1/p| < 1 und damit
∑n ≥ 0 1pn = 11 − 1/p = pp − 1 > 1.
Nach diesen Vorbereitungen können wir nun den Satz von Euklid mit einem ganz neuartigen Argument zeigen:
Satz (Unendlichkeit der Primzahlen)
Es gibt unendlich viele Primzahlen.
Beweis
Annahme, es gibt nur endlich viele Primzahlen p1 < … < pk. Dann ist jede natürliche Zahl n ≥ 1 von der Form n = p1n1 … pknk mit gewissen Exponenten n1, …, nk ≥ 0 (Existenz einer Primfaktorzerlegung). Damit erhalten wir durch Anwendung der Formel für die geometrische Reihe, des Distributivgesetzes und der Divergenz der harmonischen Reihe:
∏1 ≤ i ≤ k 11 − 1/pi = ∏1 ≤ i ≤ k ∑n ≥ 0 1pin
= ∑n1, … nk ≥ 0 ≥ ∑n ≥ 1 1n = ∞.
Das endliche Produkt auf der linken Seite (mit k Faktoren) ist also unendlich, Widerspruch.
Verwenden wir die Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung, so können wir die Abschätzung „≥“ durch „=“ ersetzen. Für das Beweisziel der Unendlichkeit der Primzahlen ist dies aber nicht nötig. Es genügt, dass in den Nennern der vorletzten Summe jede natürliche Zahl mindestens einmal auftaucht.
Zur Illustration der Argumentation betrachten wir die entscheidende distributive Umformung für einen endlichen Spezialfall:
Beispiel
Wir beschränken uns auf die Primzahlen p = 2, 3, 5 und auf die natürlichen Zahlen n = 0, 1, 2. Dann gilt:
∏p = 2, 3, 5 ∑n = 0, 1, 2 1pn = ∏p = 2, 3, 5 (1p0 + 1p1 + 1p2)
= (120 + 121 + 122) (130 + 131 + 132) (150 + 151 + 152)
= ∑n1, n2, n3 = 0, 1, 2 ,
wobei die 27 Summanden durch Ausmultiplizieren der drei Produkte entstehen.
Bemerkung
In unserem Beweis verwenden wir unendliche Summen. Dass die distributive Umformung auch hier legitim ist, können wir so einsehen:
Der Wert einer konvergenten unendlichen Reihe ∑n ≥ 0 xn ist nach Definition der Limes der Folge ihrer Partialsummen sn = x0 + … + xn. Weiter ist (nach einem Satz über konvergente Folgen) der Grenzwert des gliedweisen Produktes von endlich vielen konvergenten Folgen das Produkt der Grenzwerte der Folgen, sodass wir ein endliches Produkt „∏“ und einen Grenzwert „lim“ vertauschen können. Damit gilt in der Situation des obigen Beweises:
∏1 ≤ i ≤ k ∑n ≥ 0 1pin = ∏1 ≤ i ≤ k limn → ∞ ∑m ≤ n 1pim
= limn → ∞ ∏1 ≤ i ≤ k ∑m ≤ n 1pim
= limn → ∞ ∑n1, … nk ≤ n ≥ ∑n ≥ 1 1n = ∞.
Wir verwenden hier nur noch das Distributivgesetz für endliche Produkte und endliche Summen wie im obigen Beispiel.
Aus dem Beweis von Euler gewinnen wir:
Korollar
Es gilt:
(a) | ∏p prim, p ≤ n 11 − 1/p ≥ ∑m ≤ n 1m für alle n ≥ 1. |
(b) | ∏p prim 11 − 1/p = ∞. |
Beweis
Sei n ≥ 1. Sind p1 < … < pk alle Primzahlen kleinergleich n, so gibt es für jede Zahl m ≤ n Exponenten n1, …, nk ≥ 0 mit m = p1n1 … pknk. Damit folgt wie in obiger Argumentation, dass
∏1 ≤ i ≤ k 11 − 1/pi = ∑n1, … nk ≥ 0 ≥ ∑m ≤ n 1m.
Dies zeigt (a). Für das unendliche Produkt in (b) ergibt sich:
∏p prim 11 − 1/p = limn → ∞ ∏p prim, p ≤ n 11 − 1/p ≥ ∑n ≥ 1 1n = ∞.
Zum Korollar: Die Partialprodukte ∏p prim, p ≤ n 11 − 1/p (rot)
und die Partialsummen ∑m ≤ n 1m (blau) für n ≤ 100 im Vergleich
Experimentell: Die Partialprodukte ∏p prim, p ≤ n 11 − 1/p (rot)
und die Partialsummen ∑m ≤ n2 1m (blau) für n ≤ 100 im Vergleich
Der Beweis von Euler verwendet grundlegende Ergebnisse der reellen Analysis, allen voran den Konvergenzsatz für die geometrische Reihe und den Divergenzsatz für die harmonische Reihe. Setzen wir diese Ergebnisse als bekannt voraus, so ist der Beweis wieder sehr klar und letztendlich auch kurz: Ein Quotient
pp − 1 = 11 − 1/p
lässt sich als unendliche Summe
∑n ≥ 0 1pn
schreiben. Für große Primzahlen liegen diese Werte nahe bei 1. Multiplizieren wir diese Werte für endlich viele Primzahlen
p1, p2, …, pk
auf, so erhalten wir einen endlichen Wert, erzeugen dabei aber alle Summanden 1/n der harmonischen Reihe, deren Nenner sich mit Hilfe der Primzahlen p1, …, pk darstellen lässt (d. h. in der Form n = p1e1 … pkek mit ei ≥ 0). Da die harmonische Reihe divergiert, können endlich viele Primzahlen nicht ausreichen, um alle Zahlen n zu erzeugen. Wir können das Argument kurz so beschreiben:
Die Divergenz der harmonischen Reihe erzwingt die Unendlichkeit der Primzahlen.
Mit der Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung erhalten wir:
∏p prim 11 − 1/p = ∑n ≥ 1 1n.
Wissen wir also bereits, dass es unendlich viele Primzahlen gibt, so können wir hieraus die Divergenz der harmonischen Reihe folgern. Damit zeigt das Argument von Euler stärker:
Die Divergenz der harmonischen Reihe und die Unendlichkeit der Primzahlen sind äquivalent.
Das ist nun wirklich eine neue Einsicht, die ebenso großartig ist wie die Argumentation von Euklid! Die Analysis klopft an die Zahlentheorie und bittet um Eintritt. Eulers Argument ist der Beginn einer großen Partnerschaft.