4. Die Primzahlzählfunktion
Der kombinatorische Beweis von Axel Thue liefert mehr als die Unendlichkeit der Primzahlen. Wir erhalten eine neue Einsicht über die Häufigkeit der Primzahlen. Hierzu definieren wir:
Definition (Anzahl darstellbarer Zahlen)
Seien p1 < … < pk Primzahlen, und sei n ≥ 1. Dann setzen wir:
D(p1, …, pk; n) = |{ 1 ≤ a ≤ n | a ist darstellbar mit p1, …, pk }|.
Die Zahl D(p1, …, pk; n) gibt an, wie viele Zahlen des Intervalls { 1, …, n } eine Primfaktorzerlegung besitzen, in der lediglich die Primzahlen p1, …, pk auftauchen. Enthalten die Primzahlen p1, …, pk alle Primzahlen des Intervalls { 1, …, n }, so gilt
D(p1, …, pk; n) = |{1, …, n }| = n.
Dies folgt aus der Existenz einer Primfaktorzerlegung.
Beispiele
D(2; 1) = |{ 1 }| = 1 (mit der Darstellung 20 der 1)
D(2; 10) = |{ 1, 2, 4, 8 }| = 4
D(2, 3; 10) = |{ 1, 2, 3, 4, 6, 8, 9 }| = 7
D(2, 3, 5, 7; 10) = |{ 1, …, 10 }| = 10
D(2; 2n) = |{ 1, 2, 4, …, 2n }| = n + 1 für alle n ≥ 0
Aus unserem kombinatorischen Beweis der Unendlichkeit der Primzahlen gewinnen wir:
Satz (Abschätzung der darstellbaren Zahlen)
Seien p1 < … < pk Primzahlen, und sei n ≥ 1. Dann gilt:
(a) | D(p1, …, pk; 2n − 1) ≤ nk. |
(b) | D(p1, …, pk; 2n) ≤ nk, falls k ≥ 2. |
Beweis
Die erste Aussage ergibt sich direkt aus dem Beweis von Thue. Für die zweite Aussage beobachten wir, dass
(+) D(p1, …, pk; 2n) ≤ D(p1, …, pk; 2n − 1) + 1,
wobei Gleichheit genau dann gilt, falls p1 = 2. Sei nun k ≥ 2. Dann gilt
p1n − 1 p21 > p1n − 1 p1 = p1n ≥ 2n,
sodass wir in der Abschätzung „D(p1, …, pk; 2n − 1) ≤ nk“ des Beweises mindestens eine Kombination der Exponenten zu viel berücksichtigt haben. Damit ist D(p1, …, pk; 2n − 1) < nk, und aus (+) folgt die Behauptung.
Wegen D(2; 2n) = n + 1 für alle n ist (b) im Fall k = 1 und nk = n im Allgemeinen nicht gültig. Ist n ≥ 2 und sind p1 < … < pk alle Primzahlen in { 1, …, 2n }, so gilt k ≥ 2 und damit
2n = D(p1, …, pk; 2n) ≤ nk.
Anwendung des Logarithmus zur Basis 2 liefert
k ≥ log2(2n)log2(n) = nlog2(n).
Damit haben wir ein neues Ergebnis über die Anzahl der Primzahlen in einem Intervall der Form { 1, …, 2n } gefunden. Wir definieren hierzu allgemein:
Definition (Primzahlzählfunktion)
Die Primzahlzählfunktion π : ℕ* → ℕ ist definiert durch
π(n) = „die Anzahl der Primzahlen im Intervall { 1 , …, n }“ für alle n ≥ 1.
Die Funktion π heißt die Primzahlzählfunktion.
Es gilt also π(n) = |{ p ≤ n | p prim }| für alle n ≥ 1. Zum Beispiel ist
π(1) = 0, π(2) = 1, π(3) = π(4) = 2, π(5) = π(6) = 3, …
An jeder Primzahlstelle p springt die Zählfunktion um 1, sodass
π(p) = π(p − 1) + 1.
Ist n zusammengesetzt, so gilt dagegen π(n) = π(n − 1). Ist pk die k-te Primzahl, so gilt π(pk) = k. Die π-Funktion liefert also den Index, wenn sie auf eine Primzahl angewendet wird.
Die Primzahlzählfunktion π auf den natürlichen Zahlen bis n = 100
Die Primzahlzählfunktion π auf den natürlichen Zahlen bis n = 1000
Die Primzahlzählfunktion bildet ein Herzstück der Zahlentheorie und wirft viele Fragen auf. Die Unendlichkeit der Primzahlen besagt, dass π(n) gegen unendlich strebt, wenn n gegen unendlich strebt. Nun fragen wir genauer:
Wie schnell wächst die Funktion?
Dieser Frage werden wir im Folgenden immer wieder begegnen. Unsere Überlegungen zeigen (zusammen mit der Umrechnungsformel log2(n) = log(n)/log(2) für den Logarithmus):
Satz (Abschätzung der Primzahlzählfunktion, I)
Für alle n ≥ 2 gilt
π(2n) ≥ nlog2(n) = n log(2)log(n).
Speziell gibt es für alle natürlichen Zahlen m ≥ 1 mindestens 2m/m Primzahlen in { 1, …, 22m }.
Beweis
Die Ungleichung haben wir oben schon bewiesen. Für den Spezialfall betrachten wir n = 2m mit log2(n) = m.
Wir betrachten ein konkretes Beispiel zur Illustration:
Beispiel
Für n = 8 erhalten wir, dass es im Intervall { 1, …, 28 } = { 1, …, 256 } mindestens
k = 8log2(8) = 8log2(23) = 83 = 2 23
Primzahlen gibt, also mindestens 3. Die tatsächliche Anzahl ist 54, sodass unsere Abschätzung sehr schwach ist.
Vergleich mit dem Beweis von Euklid
Auch der Beweis von Euklid liefert eine Abschätzung für die Primzahlzählfunktion. Ist p1 < p2 < … < pn < … eine Aufzählung aller Primzahlen, so zeigt das Argument von Euklid, dass
pn + 1 ≤ p1 … pn + 1 für alle n ≥ 1.
Hieraus gewinnen wir:
(+) pn ≤ 22n für alle n ≥ 1.
Zum Beweis beobachten wir:
p1 = 2 ≤ 4 = 221
p2 ≤ p1 + 1 ≤ 2p1 ≤ 220 221 ≤ 222
p3 ≤ p1 p2 + 1 ≤ 2p1p2 ≤ 220 221 222 ≤ 223,
und allgemein durch Induktion
pn + 1 ≤ p1 … pn + 1 ≤ 220 221 … 22n ≤ 22n + 1 für alle n ≥ 1,
wobei wir die geometrische Summenformel 20 + 21 + … + 2n = 2n + 1 − 1 verwenden.
Damit erhalten wir also aus dem Beweis von Euklid die Abschätzung
π(22n) ≥ π(pn) = n für alle n ≥ 1.
Die Abschätzung π(22n) ≥ 2n/n aus dem kombinatorischen Argument ist deutlich besser.
Experiment: Exponentensummen
Wir können unsere Abschätzung noch etwas verbessern, indem wir verwenden, dass e1 + … + ek ≤ n gilt, wenn ein Produkt 2e1 3e2 … pkek eine Zahl eines Intervalle { 1, …, 2n } darstellt. Es gibt genau
= (n + 1) (n + 2) … (n + k − 1)(k − 1)!
k-Tupel (e1, …, ek) in { 0, …, n } mit e1 + … + ek = n. Denn diese Tupel entsprechen genau den Tupeln der Länge n + k − 1 in { 0, 1 } mit genau k − 1 Null-Einträgen. Zum Beispiel entspricht (2, 4, 1, 0) dem Tupel (1, 1, 0, 1, 1, 1, 1, 0, 1, 0). Beide Tupel repräsentieren die Summe 2 + 4 + 1 + 0 = 7 mit n = 7 und k = 4. Wir können dieses kombinatorische Argument anschaulich so beschreiben: Wir schreiben n Einheiten als Wort 111…111 auf und fügen nun k − 1 Nullzeichen an beliebigen Stellen ein, wobei auch die erste und letzte Position erlaubt ist und Nullen direkt aufeinanderfolgen können. Dadurch einsteht ein 0-1-Wort der Länge n + k − 1. Diese Worte entsprechen genau den Summen e1 + … + ek = n, wenn die 0 als Pluszeichen gelesen wird.
Sind nun wieder p1 < … < pk alle Primzahlen eines Intervalls { 1, …, 2n }, so zeigt unsere verbesserte Zählung, dass
2n = D(p1, …, pk; 2n) ≤ = (n + 1) (n + 2) … (n + k − 1)(k − 1)!
Im Gegensatz zu 2n ≤ nk können wir diese Ungleichung nicht mehr einfach nach k auflösen. Wir können aber wieder konkrete Werte betrachten:
Beispiel
Ist wieder n = 8 und k die Anzahl der Primzahlen in { 1, …, 28 }, so gilt
28 ≤ = (8 + 1) (8 + 2) … (8 + k − 1)(k − 1)!
Es gilt 28 = 256 und für k = 1, 2, 3, … berechnen sich die Binomialkoeffizienten zu 1, 9, 45, 165, 495, … Damit ist k ≥ 5 (da 165 < 256 ≤ 495), sodass wir im Vergleich zur letzten Abschätzung nur wenig gewonnen haben. Die kombinatorische Überlegung war es trotzdem wert.
Eine verbesserte Abschätzung für die Primzahlzählfunktion werden wir im folgenden Essay kennenlernen.