6. Der kombinatorische Beweis von Joseph Perott
Wir betrachten noch eine mit der Argumentation von Erdös verwandte kombinatorische Zählung. Sie wurde von Joseph Perott bereits 1881 gefunden, das sehr schöne Argument hat aber offenbar nur wenig Beachtung gefunden. Entscheidendes Hilfsmittel ist diesmal die Konvergenz der Reihe ∑n ≥ 1 1/n2 der reziproken Quadratzahlen und genauer der kleine Wert der Reihe. Folgender Begriff ist nützlich:
Definition (quadratfrei)
Eine natürliche Zahl n ≥ 1 heißt quadratfrei, falls für alle Primzahlen p gilt: p2 ist kein Teiler von n. Ist n nicht quadratfrei, so sagen wir auch, dass n ein Quadrat enthält.
Beispiel
Die Zahlen 1, 2, 3, 5, 6, 7, 10, 11 sind quadratfrei. Die Zahlen 4, 8, 9, 12 enthalten Quadrate.
Die Zahl 1 spielt eine Sonderrolle: Sie ist die einzige Quadratzahl, die quadratfrei ist. Genauer sollten wir also „primzahlquadratfrei“ sagen, was aber umständlich wäre. Unter Verwendung der Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung gilt, dass eine natürliche Zahl n ≥ 2 genau quadratfrei ist, wenn alle Exponenten der Primfaktorzerlegung von n gleich 0 oder 1 sind. Lassen wir die leere Zerlegung oder Zerlegungen der Form 1 = 20 = 20 · 30 = … zu, so gilt dies auch für die 1.
Im zweiten kombinatorischen Beweis haben wir von einer Zahl eine größtmögliche Quadratzahl abgespalten, um sie als Produkt einer Quadratzahl und einer quadratfreien Zahl zu schreiben. Speziell ist 1 = 12 · 1 eine solche Zerlegung, was die Doppelrolle der Eins als Quadratzahl und als quadratfreie Zahl widerspiegelt. Weiter haben wir verwendet, dass es höchstens 2k quadratfreie Zahlen gibt, die sich mit Hilfe von Primzahlen p1 < … < pk darstellen lassen. Denn jede derartige Darstellung hat die Form p1e1 … pkek mit Exponenten in { 0, 1 }. Aufgrund der Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung gibt es sogar genau 2k solche Zahlen. Zusammen mit der Beobachtung, dass in einem Intervall { 1, …, n2 } nur wenige, nämlich n, Quadratzahlen existieren, ergab sich ein Beweis für die Unendlichkeit der Primzahlen.
Nun verfolgen wir einen anderen Weg: Wir übernehmen die Abschätzung „höchstens 2k“ der quadratfreien mit p1, …, pk darstellbaren Zahlen. Als Kontrast zeigen wir jetzt, dass es in jedem Intervall { 1, …, n } mehr als n/3 quadratfreie Zahlen gibt. Ist also n derart, dass n/3 ≥ 2k, so gibt es eine quadratfreie Zahl in { 1, …, n }, die sich nicht mit p1, …, pk darstellen lässt. Damit ist erneut gezeigt, dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Die Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung wird nicht verwendet.
Für unsere Argumentation brauchen wir eine Abschätzung für die Summe
∑n ≥ 2 1n2 = 14 + 19 + 116 + …
der reziproken Quadratzahlen ab 1/4. Nach einem nichttrivialen, berühmten und wunderschönen Ergebnis von Euler gilt
∑n ≥ 1 1n2 = π26, sodass ∑n ≥ 2 1n2 = π26 − 1 = 0,64… < 23.
Diese Abschätzung wird in der Arbeit von Perott aus dem Jahr 1881 als bekannt vorausgesetzt. Wir können sie erfreulicherweise elementar ohne die Verwendung des π2/6-Satzes von Euler erhalten, indem wir den Standardbeweis der Konvergenz der Reihe analysieren. Es gilt:
(+) 1(n + 1)2 < 1n(n + 1) für alle n ≥ 1.
Die Partialsummen tn = ∑1 ≤ k ≤ n 1/(k (k + 1)) der Reihe ∑n ≥ 1 1/(n (n + 1)) lassen sich überraschend einfach berechnen. Eine Induktion nach n zeigt, dass
tn = nn + 1 für alle n ≥ 1.
Damit hat die Reihe den Wert limn → ∞ tn = 1. Für die Partialsummen un der Reihe ∑n ≥ 1 1/(n + 1)2 gilt also nach (+), dass
un < tn = nn + 1 < 1 für alle n ≥ 1.
Um bessere Abschätzungen zu erhalten, spalten wir Partialsummen ab. Es gilt
∑n ≥ 1 1(n + 1)2 < un0 + ∑n > n0 1n(n + 1) = un0 + 1 − tn0 = un0 + 1n0 + 1
für alle n0 ≥ 1. Die rechte Seite berechnet sich für n0 = 1, 2, 3, 4 zu
34, 2536, 97144, 23893600.
Der letzte Bruch ist kleiner als 2/3, sodass wir gezeigt haben:
Satz (Abschätzung für die Summe der reziproken Quadrate)
∑n ≥ 2 1n2 < 23, ∑n ≥ 1 1n2 < 53.
Das folgende Diagramm illustriert die betrachteten unendlichen Reihen.
Die Konstante c = π2/6 und die Partialsummen sn, tn, un mit
sn = ∑1 ≤ k ≤ n 1k2, tn = ∑1 ≤ k ≤ n 1k (k + 1), un = ∑1 ≤ k ≤ n 1(k + 1)2 = sn + 1 − 1
Nach diesen Vorbereitungen können wir nun sehr leicht zeigen:
Satz (Anzahl der quadratfreien Zahlen)
Sei n ≥ 1. Dann gibt es mehr als n/3 quadratfreie Zahlen in { 1, …, n }.
Beweis
Jede Zahl des Intervalls { 1, …, n }, die ein Quadrat enthält, ist ein Vielfaches einer Zahl p2 mit einer Primzahl p. Damit gibt es höchstens
∑p prim, p ≤ n np2 ≤ n ∑p prim 1p2 ≤ n ∑k ≥ 2 1k2 < 23 n
derartige Zahlen. Folglich gibt es mehr als n/3 quadratfreie Zahlen in { 1, …, n }.
Hieraus folgt (wie bereits oben diskutiert):
Korollar (Unendlichkeit der Primzahlen)
Es gibt unendlich viele Primzahlen.
Beweis
Seien p1 < … < pk Primzahlen. Sei n = 3 · 2k. Dann gibt es in { 1, …, n } mehr als 2k quadratfreie Zahlen, aber höchstens 2k quadratfreie Zahlen, die sich mit Hilfe von p1, …, pk darstellen lassen. Also gibt es eine quadratfreie Zahl m ≤ n, die einen von p1, …, pk verschiedenen Primfaktor besitzt. Dies zeigt, dass es unendlich viele Primzahlen gibt.
Mit etwas mehr Rechenaufwand können wir die gewonnene Abschätzung noch verbessern:
Satz (Anzahl der quadratfreien Zahlen, verbesserte Version)
Sei n ≥ 1. Dann gibt es mehr als n/2 quadratfreie Zahlen in { 1, …, n }.
Beweis
Für alle m ≥ 1 gilt:
∑p prim 1p2 ≤ ∑k ≥ 2 1k2 − ∑2 ≤ k ≤ m, k nicht prim 1k2.
Eine numerische Berechnung für m = 1000 zeigt, dass
∑2 ≤ k ≤ 1000, k nicht prim 1k2 > 19100.
Folglich ist
∑p prim 1p2 < 23 − 19100 = 143300 < 12.
Damit erhalten wir wie im Beweis oben, dass es weniger als n/2 Zahlen im Intervall { 1, …, n } gibt, die ein Quadrat enthalten.
Für die darstellbaren Zahlen ergibt sich:
Satz (Abschätzung der darstellbaren Zahlen, III)
Seien p1 < … < pk Primzahlen, und sei n ≥ 1. Dann gilt
D(p1, …, pk; n) < 2k + n/2.
Beweis
Die Anzahl der quadratfreien mit p1, …, pk darstellbaren Zahlen in { 1, …, n } ist kleinergleich 2k. Die Anzahl der mit p1, …, pk darstellbaren Zahlen in { 1, …, n }, die ein Quadrat enthalten, ist beschränkt durch die Anzahl aller Zahlen des Intervalls, die ein Quadrat enthalten, also kleiner als n/2.
Ist n ≥ 1 gegeben und sind p1 < … < pk alle Primzahlen in { 1, …, n }, so gilt
n = D(p1, …, pk; n) < 2k + n/2 mit k = π(n).
Damit ist
n/2 < 2π(n).
Anwendung des Logarithmus zur Basis 2 liefert:
Satz (Abschätzung der Primzahlzählfunktion, III)
Für alle n ≥ 1 gilt
π(n) > log2(n) − 1.
Speziell gibt es für alle m ≥ 1 mindestens m Primzahlen in { 1, …, 2m }.
Damit haben wir unsere bisherigen Ergebnisse noch einmal verbessert!
Die Anzahl der quadratfreien Zahlen
Wir konnten mit unseren Überlegungen die Abschätzung „mehr als n/2“ für die Anzahl der quadratfreien Zahlen kleinergleich n zeigen. Eine Computerberechnung liefert die folgenden Werte:
n | Anzahl der quadratfreien Zahlen kleinergleich n | relative Häufigkeit |
10 | 7 | 0,7 |
100 | 61 | 0,61 |
1000 | 608 | 0,608 |
104 | 6083 | 0,6083 |
105 | 60794 | 0,60794 |
106 | 607926 | 0,607926 |
107 | 6079291 | 0,6079291 |
Die Anzahl der quadratfreien Zahlen ist eng mit der Summe der reziproken Quadratzahlen und ihrem von Euler entdeckten Wert
∑n ≥ 1 1n2 = π26
verbunden. Das Inverse dieses Werts berechnet sich numerisch zu
6π2 = 0,6079271018540266…
Der Leser vergleiche dies mit der obigen Tabelle. In der Tat lässt sich mit etwas weitergehenden Methoden der Zahlentheorie beweisen, dass die relative Häufigkeit der quadratfreien Zahlen kleinergleich n gegen 6/π2 konvergiert, wenn n gegen unendlich strebt.
Wir betrachten schließlich noch die Summe der reziproken Primzahlquadrate. Eine numerische Berechnung liefert den Wert
∑p prim 1p2 = 0,4522474200410654…
Dieser Wert ist eine Abschätzung nach oben für die relative Häufigkeit der Zahlen, die ein Quadrat enthalten, sodass wir eine Abschätzung nach unten von
1 − ∑p prim 1p2 = 0,5477525799589345…
für die relative Häufigkeit der quadratfreien Zahlen erhalten. Dass dieser Wert etwas unter dem korrekten Wert 6/π2 liegt, lässt sich so erklären: In unserer Abschätzung tragen Zahlen, die mehrere verschiedene Quadrate enthalten (wie zum Beispiel 4 · 9 = 36 und 3 · 4 · 9 = 108), mehrfach zur Summe bei. Dadurch entsteht ein Fehler von etwa 5%.