9.Der topologische Beweis von Hillel Fürstenberg

Hillel Fürstenberg hat 1955 einen verblüffenden Beweis für die Unendlichkeit der Primzahlen gefunden. Der Beweis verwendet Grundbegriffe der Topologie, die wir hier voraussetzen (vgl. hierzu aber auch den folgenden Essay).

 Wir konstruieren einen topologischen Raum auf den ganzen Zahlen . Entscheidend ist der Begriff der arithmetischen Progression:

Definition (arithmetische Progression in )

Eine Teilmenge A von  heißt eine (unendliche) arithmetische Progression (in den ganzen Zahlen), falls es ein a  ∈   und ein d ≥ 1 gibt mit

A  =  a + d  =  { a + kd | k  ∈   }.

Wir nennen dann a auch einen Startpunkt und d die Schrittweite der Progression.

Beispiel

(1)

Für den Startpunkt a = 2 und die Schrittweite d = 5 ergibt sich beispielsweise die Progression

…, −13,  −8,  −3,  2,  7,  12,  17,  …

Diese Progression können wir schreiben als

2 + 5  =  7 + 5  =  −3 + 5  =  …

Ein Startpunkt ist also im Gegensatz zur Schrittweite nicht eindeutig bestimmt. Jedes Element der Progression ist als Startpunkt geeignet.

(2)

Wichtige Beispiele sind die Progressionen der Form 0 + d mit Startpunkt 0. Eine solche Progression besteht aus allen ganzzahligen Vielfachen von d. Für d = 7 erhalten wir zum Beispiel

…,  −21,  −14, −7,  0,  7,  14,  21,  …

Auch hier gibt es viele Möglichkeiten der Darstellung:

0 + 7  =  7 + 7  =  −7 + 7  =  …

Allgemein gilt für alle a, b, d, d′  ∈   mit d, d′ ≥ 1:

a + d  =  b + d′genau dann, wenn  d = d′ und b  ∈  a + d.

Progressionen sind im folgenden Sinne stabil unter Durchschnitten:

Satz (Durchschnitt arithmetischer Progressionen)

Seien A = a + d1 und B = b + d2 Progressionen. Weiter sei C = A ∩ B. Dann ist C entweder leer oder eine Progression. Genauer gilt: Ist c  ∈  C, so ist C = c + d, wobei d das kleinste gemeinsame Vielfache von d1 und d2 ist.

Beweis

Sei C nichtleer. Sei c  ∈  C beliebig, und sei d das kleinste gemeinsame Vielfache von d1 und d2. Es gilt A = c + d1 und B = c + d2.

Da d ein Vielfaches von d1 ist, ist c + d ⊆ c + d1 = A. Analog ist c + d ⊆ c + d2 = B. Dies zeigt, dass c + d ⊆ A ∩ B = C.

Sei nun c′  ∈  C beliebig. Wegen C ⊆ A und A = c + d1 gibt es ein k1 mit c′ = c + d1k1. Analog gibt es ein k2 mit c′ = c + d2k2. Folglich ist

c′ − c  =  d1k1  =  d2k2.

Dies zeigt, dass die Differenz d′ = c′ − c ein Vielfaches von d1 und von d2 ist. Damit ist d′ ein Vielfaches des kleinsten gemeinsamen Vielfachen von d1 und d2, also von d. Also existiert ein k mit d′ = dk. Insgesamt ergibt sich

c′  =  c + c′ − c  =  c + d′  =  c + dk  ∈  c + d.

Dies zeigt, dass C ⊆ c + d. Insgesamt ist also C = c + d.

 Damit können wir nun den topologischen Beweis führen.

Topologischer Beweis der Unendlichkeit der Primzahlen

Wir setzen

𝒰  =  { ⋃ 𝒜 | 𝒜 ist eine Menge von Progressionen in  }.

Nach dem Satz über Durchschnitte ist (, 𝒰) ein topologischer Raum und die Menge  der Progressionen ist eine Basis des Raumes. Nach Konstruktion ist jede Progression offen. Darüber hinaus ist jede Progression auch abgeschlossen. Denn ist A = a + d eine Progression, so ist das Komplement  − A die Vereinigung der d − 1 Progressionen

(a + 1) + d,  …,  (a + d − 1) + d

mit derselben Schrittweite d. Wir betrachten nun die offene Menge

Q  =  ⋃p prim p .

Dann gilt Q =  − { −1, 1 }, da genau die Zahlen −1 und 1 keine Vielfachen einer Primzahl sind. Da jede offene Menge eine Progression enthält, ist jede offene Menge unendlich. Damit ist { −1, 1 } nicht offen. Folglich ist Q nicht abgeschlossen. Da jede Menge p abgeschlossen und die Vereinigung endlich vieler abgeschlossener Mengen abgeschlossen ist, muss die Vereinigung

Q  =  ⋃p prim p 

aus unendlich vielen Mengen bestehen. Also gibt es unendlich viele Primzahlen.

 Der Leser wird vielleicht das Gefühl haben, dass in diesem Beweis von Primzahlen eigentlich gar nicht mehr die Rede ist, sodass das Ergebnis am Ende wie Magie erscheint. Topologische Zauberei. Die einzige Eigenschaft der Primzahlen, die verwendet wird, ist:

Jede natürliche Zahl ungleich 1 ist das Vielfache einer Primzahl.

Wir können den Beweis beleuchten, indem wir diese Eigenschaft an die Spitze stellen:

 Sei P eine Menge von positiven natürlichen Zahlen. Wir nennen P (vorübergehend, d. h. nur für diese Überlegung) erzeugend, wenn gilt:

(a)

1  ∉  P.

(b)

Jede natürliche Zahl n ≥ 2 ist ein Vielfaches eines Elementes von P.

Die beiden Eigenschaften sind äquivalent zu

q  ∈  P q*  =  * − { 1 },  mit q*  =  { qn | n ≥ 1 }.

Dies wiederum ist äquivalent zu

q  ∈  P q  =   − { −1, 1 }.

Der Beweis von Fürstenberg zeigt: Jede erzeugende Menge ist unendlich. Wir beobachten nun:

(1)

Die Menge der Primzahlen ist erzeugend. Denn 1 ist keine Primzahl und jede natürliche Zahl größergleich 2 besitzt einen Primteiler.

(2)

Ist die Menge P erzeugend, so ist die Menge der Primzahlen eine Teilmenge von P. Denn sei p eine beliebige Primzahl. Da P erzeugend ist, gibt es ein q  ∈  P und ein d ≥ 1 mit p = d q. Da q ≥ 2 und p prim ist, gilt d = 1 und damit p = q. Dies zeigt, dass p  ∈  P.

Der Begriff „erzeugend“ ist also instruktiv für den Beweis, aber mathematisch nicht weiter interessant. Genau die Obermengen der Menge der Primzahlen sind erzeugend.

 Das Argument zeigt, wie stark und flexibel die topologischen Grundbegriffe „offen“ und „abgeschlossen“ und die grundlegenden Abgeschlossenheits-Eigenschaften offener und abgeschlossener Mengen sind. Sie werden in der Mathematik zur allgemeinen Definition der Stetigkeit einer Funktion verwendet, aber sie können viel mehr. Der Beweis ist ein Paradebeispiel für die Freiheit der Mathematik: Wir können alle Arten von topologischen Räumen konstruieren, mit Hilfe offenen reellen Intervallen, koendlichen Mengen oder eben arithmetischen Progressionen. Spielen und Experimentieren führt einmal mehr zu überraschenden Querverbindungen.