1. Das Wachstum der harmonischen Reihe
Wir haben mit Hilfe des Euler-Produkts
∏p prim 11 − 1/p
einen überraschenden Zusammenhang zwischen der harmonischen Reihe
1 + 12 + 13 + … + 1n + …
und den Primzahlen entdeckt. Die Divergenz der harmonischen Reihe ist äquivalent zur Unendlichkeit des Produkts und damit zur Unendlichkeit der Primzahlen. Genauer zeigt unsere Überlegung (unter Verwendung der Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung):
Satz (endliche Euler-Produkte)
Für alle Primzahlen p1 < … < pk gilt:
∏1 ≤ i ≤ k 11 − 1/pi = ∑n ist darstellbar mit p1, …, pk 1n.
Das Produkt auf der linken Seite hat nur endlich viele Faktoren, die Summe auf der rechten Seite hat dagegen unendlich viele Summanden, d. h. sie ist eine unendliche Reihe. Denn alle Potenzen p1, p12, p13, … sind darstellbar mit Hilfe von p1, …, pk, und das Gleiche gilt für p2, …, pk und beispielsweise auch für die Potenzen des Produkts p1 … pk.
Im Fall k = 1 ist das Ergebnis ein Spezialfall des Satzes über die Konvergenz der geometrischen Reihe (mit q = 1/p). Für k = 2 erhalten wir rechts die Summanden 1/(p1e1p2e2) mit beliebigen Exponenten e1, e2 ≥ 0. Der Leser möge sich anhand dieses Falls den Beweis des Satzes über das Euler-Produkt noch einmal vor Augen führen: Die beiden Faktoren des Produkts werden durch unendliche geometrische Reihen mit q1 = 1/p1 und q2 = 1/p2 ersetzt. Das distributive Ausmultiplizieren dieser Reihen liefert die Summe auf der rechten Seite.
Je mehr Primzahlen wir in das Produkt aufnehmen, desto mehr Summanden entstehen. Sind p1 < … < pk alle Primzahlen in einem Intervall { 1, …, n }, so gilt
∏1 ≤ i ≤ k 11 − 1/pi ≥ ∑k ≤ n 1k.
Die Summe auf der rechten Seite ist eine Partialsumme der harmonischen Reihe.
Aufgrund dieser Zusammenhänge ist es nur natürlich, das Wachstum der harmonischen Reihe genauer zu untersuchen. An dieser Stelle kommt die Logarithmusfunktion log : ] 0, ∞ [ → ℝ zur Basis e ins Spiel, und die Basis e kann hier durch keine andere Basis ersetzt werden. Euler zeigte 1740:
Satz (Wachstum der harmonischen Reihe)
Die Partialsummen sn = ∑1 ≤ k ≤ n 1/k der harmonischen Reihe wachsen bis auf eine Konstante wie der Logarithmus. Genauer gilt: Es gibt eine reelle Zahl γ ∈ ] 0, 1 [ derart, dass
γ = limn → ∞ (sn − log(n)).
Zudem konvergiert die Differenzenfolge (sn − log(n))n ≥ 1 streng monoton fallend gegen γ (mit Startwert s1 − log(1) = 1), während die Differenzenfolge (sn − log(n + 1))n ≥ 1 streng monoton steigend gegen γ konvergiert.
Die Konstante γ heißt die Euler-Mascheroni-Konstante. Es gilt
γ = 0,577215664901532860606512090082402431042159…
Bevor wir den Satz beweisen, illustrieren wir die beteiligten Summen und Funktionen durch Diagramme.
Die Partialsummen sn der harmonischen Reihe (rote Punkte) im Vergleich mit den Funktionen log(x) und log(x) + γ
Zur monotonen Konvergenz der Differenzenfolgen (sn − log(n))n ≥ 1 (gelb) und (sn − 1 − log(n))n ≥ 1 (grün) gegen γ (mit s0 = 0).
Zum Beweis des Satzes über die Euler-Mascheroni-Konstante betrachten wir die Hyperbel 1/x auf dem Intervall [ 1, ∞ [ und die darüberliegende Stufenfunktion g auf demselben Intervall mit
g(x) = 1⌊x⌋ für alle x ≥ 1.
Dabei ist wieder ⌊ · ⌋ : ℝ → ℝ die Floor-Funktion mit
⌊x⌋ = „das größte n ∈ ℤ mit n ≤ x“ für alle x ∈ ℝ.
Die beiden Funktionen 1/x und 1/⌊x⌋ definieren eine unbeschränkte eingeschlossene Fläche, die aus endlichen Flächen mit den Inhalten
A1, A2, A3, …, An, …
besteht, vgl. das folgende Diagramm. Wir setzen
A = A1 + … + An + …
Wir zeigen nun, dass A endlich ist und dass genauer
A = limn → ∞ (sn − log(n)) = limn → ∞ (sn − 1 − log(n))
in streng monoton fallender bzw. steigender Form. Dies zeigt, dass A = γ mit γ wie im Satz. Damit haben wir nicht nur den Satz bewiesen, sondern auch eine anschauliche Flächeninterpretation der Euler-Mascheroni-Konstanten ans Licht gebracht. Die Zahl γ ist der Gesamtfehler, der entsteht, wenn wir in der Hyperbel 1/x die Stellen x runden und stattdessen mit 1/⌊x⌋ rechnen. Diese Werte sind die Summanden der harmonischen Reihe.
Für alle n ≥ 1 gilt
An ≤ g(n) − g(n + 1) = 1n − 1n + 1 = 1n(n + 1).
Die Partialsummen der unendlichen Reihe ∑n ≥ 1 1/(n (n + 1)) berechnen sich induktiv zu n/(n + 1), sodass
A = ∑n ≥ 1 An ≤ ∑n ≥ 11n(n + 1) = limn → ∞ nn + 1 = 1.
Diese Abschätzung lässt sich auch leicht aus unserem Diagramm ablesen: Wir verschieben die Flächen A1, A2, …, An, … waagrecht nach links hin zur y-Achse, sodass sie disjunkte Teilmengen des Quadrats [ 1, 2 ] × [ 0, 1 ] bilden (das in unserem Diagramm aufgrund der unterschiedlichen Achsen-Skalierung verzerrt erscheint). Folglich ist die Gesamtfläche A aller An kleinergleich 1. Allgemeiner zeigt dieses Verschiebungsargument, dass
An + An + 1 + … ≤ 1 · 1/n = 1/n für alle n ≥ 1.
Hierzu verschieben wir alle Ai mit i ≥ n waagrecht nach links in das Rechteck [ n, n + 1 ] × [ 0, 1/n ].
Visualisierung der Euler-Mascheroni-Konstanten:
γ ist der Inhalt der blau dargestellten eingeschlossenen Fläche
Sei nun n ≥ 1 beliebig. Der Flächeninhalt An lässt sich als Differenzenfläche mit Hilfe von Integration berechnen und dies bringt den Logarithmus als Stammfunktion von 1/x ins Spiel. Es gilt
An | = 1n − ∫n+1n 1x dx = 1n − |
= 1n − (log(n + 1) − log(n)) | |
= 1n − log(n + 1n) = 1n − log(1 + 1n). |
Bei der Summation dieser Werte in der Form der zweiten Zeile entsteht eine Teleskopsumme, bei der sich die inneren Logarithmen gegenseitig aufheben und der Schlusswert wegfällt (wegen log(1) = 0). Es gilt
∑1 ≤ k ≤ n Ak = ∑1 ≤ k ≤ n (1n − (log(n + 1) − log(n))) = sn − log(n + 1).
Dies zeigt, dass die Folge (sn − log(n + 1))n ≥ 1 streng monoton steigend gegen den Wert A = ∑n An konvergiert. Genauer besteht die Folge aus den Partialsummen dieser Reihe. Es folgt
A = limn (sn − 1 − log(n)) = limn (sn − log(n) − 1/n) = limn (sn − log(n)).
Um zu zeigen, dass die Folge (sn − log(n))n ≥ 1 monoton fällt, beobachten wir, dass
log(n + 1) − log(n) = ∫n + 1n 1x dx > ∫n + 1n 1n + 1 dx = 1n + 1
für alle n ≥ 1. Damit gilt für alle n ≥ 1, dass
(sn − log(n)) − (sn + 1 − log(n + 1)) = log(n + 1) − log(n) − 1n + 1 > 0.
Also konvergiert die Folge (sn − log(n))n ≥ 1 streng monoton fallend gegen A (was sich auch wieder anhand des obigen Diagramms anschaulich einsehen lässt). Damit ist der Satz über das Wachstum der harmonischen Reihe (mit γ = A) vollständig bewiesen. Zudem haben wir gezeigt:
Satz (Eulersche Summendarstellung von γ)
Es gilt
γ = ∑n ≥ 1 (1n − log(1 + 1n)).
Beweis
Es gilt γ = ∑n ≥ 1 An, sodass die Aussage aus obiger Berechnung von An folgt.
Eine weitere Darstellung ist:
Satz
Für alle n ≥ 1 gilt
∑1 ≤ k ≤ n Ak = n − log(n + 1) − ∑1 ≤ k < n kk + 1,
sodass
γ = limn → ∞ (n − log(n + 1) − ∑1 ≤ k < n kk + 1).
Beweis
Eine Induktion nach n ≥ 1 zeigt, dass
(+) sn = ∑1 ≤ k ≤ n 1k = n − ∑1 ≤ k < n kk + 1 für alle n ≥ 1.
Damit folgt die Behauptung aus der oben für alle n ≥ 1 bewiesenen Identität
∑1 ≤ k ≤ n Ak = sn − log(n + 1).
Die Darstellung (+) für die Partialsummen der harmonischen Reihe lässt sich auch geometrisch einsehen. Sei hierzu n ≥ 1. Dann ist die Partialsumme sn der Inhalt der Fläche
⋃1 ≤ k ≤ n [ k, k + 1 ] × [ 0, 1/k ],
die wie im obigen Diagramm aus n senkrechten Streifen der Breite 1 und Höhe 1, 1/2, …, 1/n aufgebaut ist. Diese Fläche können wir aber auch in n waagrechte Streifen aufteilen und in der Form
⋃1 ≤ k < n [ 1, k ] × [ 1/k, 1/(k + 1) ] ∪ [ 1, n ] × [ 0, 1/n ]
darstellen. Der Flächeninhalt dieser Darstellung berechnet sich zu
∑1 ≤ k < n k (1k − 1k + 1) + 1 = n − ∑1 ≤ k < n kk + 1.
Die Formel für die Partialsummen ∑1 ≤ ≤ n Ak des Satzes lässt sich durch diese geometrische Interpretation aus obigem Diagramm ebenfalls direkt ablesen.