4.Die Summe der reziproken Primzahlen

Die Divergenz der harmonischen Reihe

1  +  12  +  13  +  14  +  15  +  16  +  …  +  1n  +  …

haben wir elementar durch geschickte Klammerung der Summanden bewiesen und weiter durch einen Integral-Vergleich mit der Funktion 1/x. Wir betrachten nun folgende Ausdünnung der harmonischen Reihe, bei der wir nur die reziproken Primzahlen summieren:

12  +  13  +  15  +  17  +  111  +  113  +  …  +  1p  +  …

Es ist nützlich, dieser Reihe einen Namen zu geben:

Definition (harmonische Primzahlreihe)

Die harmonische Primzahlreihe ist die Reihe p prim 1/p.

 Wir werden in diesem und im folgenden Essay mit zwei verschiedenen Methoden zeigen:

Satz (Divergenz der harmonischen Primzahlreihe)

Die harmonische Primzahlreihe divergiert, d. h. es gilt

p prim 1p  =  ∞.

 Die mit Hilfe der Primzahlen ausgedünnte harmonische Reihe hat wie die harmonische Reihe also immer noch den Wert unendlich. Der Satz zeigt erneut, dass es unendlich viele Primzahlen gibt, denn andernfalls wäre die Summe endlich. Darüber hinaus erhalten wir eine Information über die Häufigkeit der Primzahlen. Für die geometrische Reihe der Potenzen von q = 1/2 gilt

n ≥ 0 12n  =  1  +  12  +  14  +  18  +  …  =  2.

Diese geometrische Reihe ist ebenfalls eine Ausdünnung der harmonischen Reihe. Sie besitzt unendlich viele Summanden, aber die Potenzen der 2 sind in den natürlichen Zahlen so dünn verteilt, dass sich ihre Kehrwerte zu einem endlichen Wert aufsummieren. Die Primzahlen sind damit in diesem Sinne viel dichter als die Potenzen der 2.

 Die Untersuchung der harmonischen Primzahlreihe beginnt mit einer Arbeit von Leonhard Euler aus dem Jahr 1737 (siehe [ Euler 1744 ]). Euler zeigte in dieser Arbeit nicht nur die Divergenz der Reihe, sondern er untersuchte auch ihr Wachstumsverhalten. Aus heutiger Sicht ist seine Beweisführung nicht korrekt. Sein Argument für die Divergenz der harmonischen Primzahlreihe lässt sich aber noch relativ leicht so modifizieren, dass es den heutigen Standards genügt. Ausgangspunkts ist erneut das Euler-Produkt

p prim 11 − 1/p  =  ∞.

Wir verwenden nun:

Satz (Konvergenzkriterium für unendliche Produkte)

Ein unendliches Produkt n ≥ 0 xn positiver reeller Zahlen konvergiert genau dann, wenn die unendliche Reihe n ≥ 0 log(xn) konvergiert.

Beweis

Die Behauptung ergibt sich aus der Definition

n ≥ 0 xn  =  limn  ∞ k ≤ n xk

des Werts eines unendlichen Produkts und dem Multiplikationstheorem für den Logarithmus:

log(k ≤ n xk)  =  k ≤ n log(xk)  für alle n ≥ 0.

Nach der Unendlichkeit des Euler-Produkts gilt also

p prim log(11 − 1/p)  =  ∞.

Um hieraus die Divergenz der harmonischen Primzahlreihe zu gewinnen, setzen wir die folgende klassische Reihendarstellung des Logarithmus ein:

Satz (Konvergenz der Logarithmus-Reihe)

Die Taylor-Reihe der Funktion log(1 + x) konvergiert im Intervall ] −1, 1 ], d. h. für alle x  ∈  ] −1, 1 ] gilt

log(1 + x)  =  x − x22 + x33 − x44  +  …  =  k ≥ 1 (−1)k − 1 xkk.

Wir verweisen den Leser auf die Literatur zur Analysis für einen Beweis dieser Reihen-Darstellung.

 Vielfach nützlich sind die folgenden Umformungen:

Korollar (verschiedene Logarithmus-Reihen)

Es gilt:

(a)

log(2)  =  1 − 12 + 13 − 14  +  …  =  k ≥ 1 (−1)k − 1 1k

(b)

log(1 + 1/x)  =  1x − 12x2 + 13x3 − …  =  k ≥ 1 (−1)k − 1 1kxk

(c)

log(1 − 1/x)  =  − (1x + 12x2 + 13x3  +  …)  =  − k ≥ 1 1kxk

(d)

log(11 − 1/x)  =  1x + 12x2 + 13x3 + …  =  k ≥ 1 1kxk

mit x  ∈  ] −1, 1] in (b), x  ∈  [ −1, 1 [ in (c) und x  ∈  ] −∞, 0 [ ∪ [ 2, ∞ [ in (d).

 Die erste Aussage zeigt, dass log(2) der Wert der alternierenden harmonischen Reihe ist. Im Vergleich zur harmonischen Reihe ist hier jedes zweite Vorzeichen negativ.

 Im Hinblick auf das Euler-Produkt ist für unsere Untersuchungen vor allem die für alle x ≥ 2 gültige Form

log(11 − 1/x)  =  1x + 12x2 + 13x3 + 14x4  +  …

von Bedeutung. Alle Summanden auf der rechten Seite sind hier positiv. Um die Summanden abzuschätzen, beobachten wir, dass für alle natürlichen Zahlen n ≥ 2 und alle reellen Zahlen x ≥ 2 gilt:

n xn  ≥  2 xn − 2 x2  ≥  2 2n − 2x2  =  2n − 1 x2.

Für alle n ≥ 2 und alle x ≥ 2 gilt also

1nxn  ≤  12n − 1x2.

Zusammen mit der geometrischen Reihe 1/2 + 1/4 + 1/8 + … = 1 erhalten wir aus dieser Abschätzung, dass für alle x ≥ 2 gilt:

log(11 − 1/x) ≤  1x + 12x2 + 14x2 + … + 12nx2  +  …
=  1x + 1x2 (12 + 14 + … + 12n  +  …)
=  1x + 1x2.

Damit ergibt sich (unter Verwendung der logarithmischen Form des Euler-Produkts):

(+)  ∞  =  p prim log(11 − 1/p)  <  p prim 1p  +  p prim 1p2.

Wir wissen bereits, dass die Reihe der reziproken Quadratzahlen konvergiert Damit gilt:

p prim 1p2  ≤  n ≥ 1 1n2  <  ∞.

Da also die zweite Reihe auf der rechten Seite in (+) konvergiert, muss die erste Reihe auf der rechten Seite divergieren. Damit haben wir bewiesen:

Satz (Divergenz der harmonischen Primzahlreihe)

p prim 1p  =  ∞.

 Explizit halten wir fest:

Satz (eine Logarithmus-Ungleichung)

Für alle x ≥ 2 gilt:

1x  <  log(11 − 1/x)  ≤  1x + 1x2.

Beweis

Die erste Ungleichung folgt direkt aus der Darstellung

log(11 − 1/x)  =  1x + 12x2 + 13x3 + 14x4  +  …  für alle x > 1

Die zweite Ungleichung haben wir oben bewiesen.

 Aus der Logarithmus-Ungleichung ergibt sich die Divergenz der harmonischen Primzahlreihe in wenigen Zeilen. Das folgende Diagramm illustriert die Verhältnisse. Die Abschätzung ist sehr scharf. Die Stelle, ab der die Ungleichung gilt, berechnet sich numerisch zu

x0  =  1,46241029979…

prim1-AbbID-loginequality1

zur Ungleichung für log(1/(1 − 1/x))

Bemerkung:  Taylor-Entwicklung statt Logarithmus-Reihe

Durch die Verwendung der Logarithmus-Reihe wird das Argument besonders elegant. Alternativ können wir eine einfache Taylor-Entwicklung der Funktion log(1 + x) durchführen und das Restglied in der Lagrange-Form abschätzen: Für alle reellen Zahlen x ≥ −1 gibt es ein ξ zwischen 0 und x mit

log(1 + x)  =  x  − x22(1 + ξ)2.

Damit gibt es für alle reellen Zahlen x > 1 ein ξx  ∈  [ −1/x, 0 ] mit

log(11 − 1/x)  =  − log(1 − 1/x)  =  1x  +  12(1 + ξx)2x2.

Für x ≥ 2 ist (1 + ξx)2 ≥ (1 − 1/2)2 = 1/4, sodass die rechte Seite durch 1/x + 2/x2 abgeschätzt werden kann. Diese Abschätzung ist etwas schwächer als obige Version, aber sie genügt für den Beweis.

Weitere Darstellungen der Euler-Mascheroni-Konstante

 Mit Hilfe der Logarithmus-Reihe

log(1 + x)  =  x − x22 + x33 −  …  =  k ≥ 1 (−1)k − 1 xkk  für alle x  ∈  ] −1, 1 ].

gewinnen wir:

Satz (Doppelsummen-Darstellung von γ)

Für alle n ≥ 1 sei An = 1/n − log(1 + 1/n). Dann gilt

An  =  k ≥ 2 (−1)k 1knk  für alle n ≥ 1

und

γ  =  n ≥ 1 k ≥ 2 (−1)k 1knk.

Beweis

Sei n ≥ 1. Dann gilt

An =  1n  −  log(1 + 1n)
=  1n  −  k ≥ 1 (−1)k − 1 1knk  =  k ≥ 2 (−1)k 1knk.

Die zweite Aussage folgt nun aus γ = n ≥ 1 An.

 Hieraus ergibt sich:

Korollar (Zeta-Darstellung von γ)

Es gilt

γ  =  k ≥ 2 (−1)k ζ(k)k.

Beweis

Es gilt

γ =  n ≥ 1 k ≥ 2 (−1)k 1knk
=  k ≥ 2 (−1)k 1k n ≥ 1 1nk  =  k ≥ 2 (−1)k 1k ζ(k).