Prolog

Wir reisen gedanklich nach Alexandria am westlichen Nilufer gegen 300 vor Christus. Die Stadt ist wenige Jahrzehnte nach ihrer Gründung durch Alexander den Großen im Jahr 331 bereits eine wissenschaftliche Metropole. Um diese Zeit beginnt der Bau eines gewaltigen Leuchtturms. Im „Heiligtum der Musen“, dem Museion, entstehen universitäre Strukturen von Forschung und Lehre, samt einer angeschlossenen Bibliothek, die zu einer der bedeutendsten der Welt werden sollte.

 Ohne jeden Anspruch auf historische Übereinstimmung sehen wir in Alexandria einen neugierigen Schüler namens Euklid im Alter von etwa 13 Jahren. Er befindet sich auf dem Weg zur Schule. Neben seiner Schule wird gerade gebaut und seine Lehrer sagten, dass hier etwas ganz Großes entstehen würde. Ein gemeinsamer Ort für Künstler, Philosophen, Mathematiker, für Wissenschaftler und Lehrer aller Art. Euklid liebt vor allem die Mathematik. Er denkt gerade über die Zahlen nach, wie er sie in seiner Schule gelernt hat. Aus der Einheit 1, die selbst nicht als Zahl gilt, ergeben sich durch Zusammensetzen von ununterscheidbaren Einheiten die Zahlen:

1∼1,  1∼1∼1,  1∼1∼1∼1,  1∼1∼1∼1∼1,  …

oder

2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, …

[ Die alten Griechen haben die Zahlen natürlich anders notiert und es ist eine Aufgabe der Geschichtsforschung, den Zahlbegriff der Antike möglichst genau zu rekonstruieren. Wir wollen derartige Fragen hier vernachlässigen, um unsere Erzählung, die ja frei erfunden ist und keinerlei Ansprüche auf historische Korrektheit geltend machen möchte, einfach zu halten. ]

Wie geht das Zusammensetzen von Einheiten eigentlich genau? Werden sie zusammengeklebt? Woher kommen die Einheiten? Haben wir beliebig viele davon? Wie kann es überhaupt zwei Dinge geben, die sich nicht unterscheiden lassen? Euklids Lehrer sagte ihm, dass solche Fragen sehr schwierig seien. Das hieß wohl, dass er sie selber nicht beantworten konnte.

 Heute war wieder Mathematik-Unterricht, gleich in der ersten Stunde. Der Lehrer begann:

„Wir betrachten noch einmal unsere Zahlen:

2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, …

Manche Zahlen dieser Reihe sind durch vorangehende Zahlen teilbar, etwa

6  =  2 · 3,  9  =  3 · 3  und  12  =  3 · 4.

Diese Zahlen nennen wir zusammengesetzte Zahlen. Die Zahlen, die nicht zusammengesetzt sind, nennen wir Primzahlen. Diese Zahlen sind nur durch sich selbst und natürlich durch die Einheit 1 teilbar. Wir können die 7 und die 13 nur schreiben als

7 = 7 · 1 = 1 · 7  und  13 = 13 · 1 = 1 · 13.

Das ist etwas ganz anderes als 6 = 2 · 3 = 3 · 2. Die Zahlen 6, 9 und 12 sind also Beispiele für zusammengesetzte Zahlen. Die Zahlen 7 und 13 sind dagegen Beispiele für Primzahlen.“

 Der Lehrer war beglückt über seinen eigenen Unterricht und bekam leuchtende Augen. Viele seiner Schüler teilten dieses Glück nicht. Sie verhielten sich aber still, da sie wussten, dass ihr Lehrer in diesen besonderen Momenten empfindlich auf Störungen des Unterrichts reagierte. Euklid jedenfalls war neugierig geworden. Der Lehrer fuhr fort:

„Wir können uns vorstellen, dass die zusammengesetzten Zahlen mindestens zwei Bausteine besitzen, aus denen sie, was die Multiplikation betrifft, bestehen. Deshalb nennen wir sie ja gerade zusammengesetzt! Die Primzahlen dagegen zerfallen nicht in Bausteine. Sie sind selber die Bausteine, aus denen die zusammengesetzten Zahlen gemacht sind!“

 Jetzt war Euklid voll bei der Sache. Bausteine von Zahlen − das hört sich an wie ein Spiel. Und er bekam nun ebenfalls leuchtende Augen, als sein Lehrer wieder zur Kreide griff:

„Die ersten Primzahlen lauten

2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29, 31, 37, 41, 43, 47, 53, 59, 61, 67, 71, 73, 79, 83, 89, 97

Ich könnte diese Liste noch lange fortsetzen. Es gibt genau 25 Primzahlen kleiner als Hundert. Gestern habe ich bis spät in die Nacht alle Primzahlen bis Tausend bestimmt. Wenn ich mich nicht verrechnet habe, was, wir ihr wisst, gar nicht so selten vorkommt, gibt es genau 168 Primzahlen, die kleiner als Tausend sind. Warum es genau 168 sein sollten, weiß ich nicht. 1000 geteilt durch 168 ist ungefähr 6. Damit ist also ungefähr jede sechste Zahl kleiner als Tausend eine Primzahl. Bis Hundert ist es jede vierte.“

 Die Unregelmäßigkeit der Folge der Primzahlen faszinierte Euklid. Manchmal gibt es Zweiersprünge zwischen zwei Primzahlen, etwa von 3 nach 5, manchmal aber auch Vierer- und Sechsersprünge, etwa von 19 zu 23 oder von 61 zu 67. Und die Liste war ja, wie der Lehrer sagte, erst der Anfang. Diese Zahlen sind wirklich sonderbar… Immer wenn eine neue Primzahl auftaucht, gibt es einen neuen Baustein. Euklid stellte sich die Primzahlen farbig vor und baute in Gedanken farbige Gebilde mit ihnen. Eine rote Zwei, zwei blaue Dreien und eine grüne Elf ergab die zusammengesetzte Zahl 2 · 3 · 3 · 11 = 198 mit vier Bausteinen. Der Lehrer fuhr fort:

„Klar ist, dass die Primzahlen immer seltener werden. Denn alle echten Vielfachen

4, 6, 8, 10, 12, 14, … der 2,

6, 9, 12, 15, 18, 21, … der 3

10, 15, 20, 25, 30, 35, … der 5

14, 21, 28, 35, 42, 49, … der 7

und so weiter sind keine Primzahlen und diese Vielfachen sind sehr zahlreich. Die Folge der Primzahlen wird also immer dünner. Ich weiß nicht, ob sie irgendwann endet. In diesem Fall gäbe es nur endlich viele Primzahlen und folglich eine größte Primzahl! Soweit ich herumgefragt habe, weiß niemand eine Antwort.“

 Die größte Primzahl… Ob es sie gibt? Der Lehrer wusste es nicht. Und wenn niemand in Alexandria eine Antwort wusste, dann hieß das eine Menge.

 Die Mathematik-Stunde war zu Ende und jetzt stand Griechische Literatur auf dem Stundenplan. Im Gegensatz zu seinem Mathematik-Lehrer war der Griechisch-Lehrer immer perfekt organisiert. Sie lasen die Antigone des Sophokles und Euklid vergaß darüber zwischenzeitlich die Primzahlen.

 Am Nachmittag zog sich Euklid in sein Zimmer zurück. Er dachte nach. Er experimentierte, er spielte mit Zahlen. Er vermutete − es war nicht viel mehr als ein Bauchgefühl −, dass es keine größte Primzahl geben könne. Zu jeder Primzahl wird sich eine größere finden lassen, wenn man nur sucht. Er schrieb sich die ersten Primzahlen noch einmal aus seinem Heft ab:

2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, …

Er blickte nun auf die Vielfachen der 2, 3, 5 und 7, die der Lehrer angegeben hatte, um zu begründen, warum die Primzahlen immer seltener werden. Er betrachtete das Produkt

2 · 3 · 5 · 7  =  210

der ersten vier Primzahlen und stellte fest, dass die Zahl 210 ein gemeinsames Vielfaches von 2, 3, 5 und 7 ist. Das hatten sie schon in der Schule gehabt, das kleinste gemeinsame Vielfache. Das war nicht besonders spannend gewesen und es hatte ihn bisher nicht wirklich interessiert. Jetzt aber fand er Gefallen an dem Produkt 2 · 3 · 5 · 7 = 210. Die Zahl 210 ist eine echte Antiprimzahl! Und plötzlich hatte Euklid eine Idee:

„Wenn ich 1 dazurechne und also

211  =  2 · 3 · 5 · 7  +  1

bilde, erhalte ich eine Zahl, die vielleicht eine Primzahl ist, vielleicht auch nicht. Sie ist aber ganz sicher nicht durch 2, 3, 5 und 7 teilbar, da sie den Rest 1 bei der Division durch diese Zahlen besitzt. Sie hat also andere Bausteine als 2, 3, 5, 7. Und das geht immer. Mein Trick heißt einfach:

Alles multiplizieren und dann Eins addieren!

Das funktioniert nicht nur mit 2, 3, 5 und 7, sondern mit beliebig vielen Primzahlen! Wenn ich

2 · 3 · 5 · 7 · 11 · 13 · 17

berechne − was immer das sein mag − und dann 1 hinzuzähle, erhalte ich eine Zahl, die nicht durch 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17 teilbar ist. Jeder Baustein dieser Zahl ist also von 2, 3, 5, 7, 13, 17 verschieden. Wir können also immer neue Bausteine finden. Wir müssen nur alle Bausteine, die wir kennen, multiplizieren und dann 1 dazuzählen! Dadurch erhalten wir eine Zahl, die neue Bausteine besitzt. Es kann also keine größte Primzahl geben! Die Primzahlen sind unendlich!“

 Am nächsten Tag berichtete Euklid seine Entdeckung seinem Lehrer. Nachdem dieser seine Sprache wiedergefunden hatte, half er ihm, seine Argumentation in die Form eines Beweises zu bringen, den er seinen Kollegen zeigen konnte. Der Beweis wurde von niemandem angezweifelt. Alle waren sich einig, dass Euklid gezeigt hatte, dass es keine größte Primzahl gibt. Sein Lehrer hatte ihm immer gesagt, dass es in der Mathematik keinen Streit gebe und dass man seine Überlegungen immer frei vorbringen könne, ohne fürchten zu müssen, dass man dadurch Missfallen erzeuge. Zumindest nicht bei Mathematikern.

 Viele Jahre später schrieb Euklid, der selbst Mathematiker in Alexandria geworden war, ein großes Lehrbuch der Mathematik mit dem schlichten Titel „Elemente“. Es schrieb über Geometrie und über Zahlen. Und er schrieb alles über Primzahlen auf, was er wusste. Es war ihm egal, ob ein Ergebnis von ihm war oder nicht. Aber er erinnerte sich immer gerne an die Entdeckung seiner Schulzeit über die Unendlichkeit der Primzahlen.