Kommensurable Größen
Nach antiken Überlieferungen könnte es der Pythagoras-Schüler Hippasos von Metapont im Süden Italiens gewesen sein, der gegen 450 vor Christus entdeckte, dass es, wie wir heute sagen würden, irrationale Zahlen gibt; dass ℚ nicht ganz ℝ ist, sondern ein echter Teil von ℝ; dass nicht jeder Punkt einer stetigen Linie durch eine rationale Zahl bezeichnet werden kann. Die Quellenlage ist dunkel. Wir folgen dem berühmt gewordenen spekulativen Rekonstruktionsversuch der Ereignisse von Kurt von Fritz (1954). Es ist zudem eine schöne Geschichte.
Was entdeckte nun Hippasos und allgemeiner die griechische Mathematik, aus ihrer Sicht der Dinge? Wir sprechen ihre Sprache nicht, und das in einem viel tieferen Sinn, als dass wir kein Altgriechisch mehr verstünden. Die so weit als möglich sprachtreue Aufarbeitung der griechischen Mathematik ist Teil der Wissenschaftsgeschichte. Es ist eine komplexe Aufgabe, die dem Forscher nicht zuletzt auch Vergessen abverlangt, denn neueres Wissen scheint nicht nur altes Wissen abzulösen, sondern oft auch zu überschreiben und zu verzerren (vgl. etwa [ Knorr 2001 ]). Uns kommt es hier nur darauf an, einige alte, uns fern liegende Ideen wenigstens erahnbar und für unsere Zwecke fruchtbar zu machen, bevor wir sie dann in ein neues Gewand kleiden. Auf die moderne mathematische Sprache werden wir dabei nie ganz verzichten wollen. (Für einen nichtarithmetisierten Rekonstruktionsversuch der griechischen Verhältnislehre siehe etwa [ Fowler 1999 ].)
Wir betrachten also zwei „Größen“ x und y, worunter wir etwas genauer „positive Zahlgrößen“ verstehen wollen, speziell die linearen Größen, die in konkreten geometrischen Figuren auftreten. Zum Beispiel könnten x und y die beiden Größen sein, durch welche ein Rechteck bestimmt ist. Die beiden gegebenen Größen können in einem sehr einfachen Verhältnis stehen. Die eine kann etwa das Dreifache der anderen sein. Daneben kann ihr Verhältnis komplizierter sein, indem zum Beispiel das Dreifache der ersten Größe genau das Fünffache der zweiten Größe ist. Viele natürlich auftretenden Größenpaare haben nun nachweisbar dieses Verhalten, und wir formulieren als These, dass es keine anderen Paare gibt:
Vervielfachungshypothese
Sind x und y zwei Größen, so existieren positive natürliche Zahlen n und m, sodass das n-fache von x das m-fache von y ist.
Es gilt dann also nx = my. Also ist x/y = m/n, also x/y eine rationale Zahl. Ist umgekehrt x/y rational, etwa x/y = m/n, so ist nx = my. Die Hypothese ist also äquivalent zu: Alle Größenpaare haben ein rationales Verhältnis.
Eng mit der Vervielfachungshypothese verwandt ist die folgende Überlegung: Zu gegebenen Größen x und y kann eine dritte Größe z existieren, sodass sowohl x als auch y zu dieser dritten Größe z im einfachsten aller denkbaren Verhältnisse stehen, indem nämlich x und y beide ganzzahlige Vielfache von z sind. Die Existenz eines solchen z scheint nun recht glaubhaft: Denn es ist ausdrücklich erlaubt und erwünscht, z auf x und y hin zuzuschneidern; die dritte Größe braucht sich an keinem Urmeter zu orientieren. Wir können, x und y studierend, z sehr klein wählen und geeignet fein einstellen, damit alles schön ohne Rest aufgeht. Wir definieren:
Definition (kommensurabel)
Zwei Größen x und y heißen kommensurabel, wenn es eine Größe z und natürliche Zahlen n, m gibt mit der Eigenschaft:
x = n · z ,
y = m · z.
z heißt dann eine Maßeinheit für x und y.
In den „Elementen“ des Euklid wird der Begriff bereits streng definiert:
Euklid (um 300 v. Chr):
„X. Buch. Definitionen. 1. Kommensurabel heißen Größen, die von demselben Maße gemessen werden, und inkommensurabel solche, für die es kein gemeinsames Maß gibt.“
Eine zeitliche Einordnung der Begriffe und Sätze, die in den „Elementen“ des Euklid auftauchen, ist schwierig. Vieles davon war gut bekannt, als Euklid sein Werk verfasst hat. Hinzu kommt, dass die „Elemente“ später oft in bearbeiteter Form erschienen sind (berühmt-berüchtigt ist eine Edition von Theon von Alexandria im 4. Jahrhundert n. Chr). Die ältesten erhaltenen Euklid-Handschriften stammen aus dem 9. Jahrhundert n. Chr.
Eine Maßeinheit ist keineswegs eindeutig bestimmt: Mit z ist auch z/k für alle natürlichen Zahlen k ≥ 1 eine Maßeinheit für x und y. Ob es für kommensurable Größen immer auch eine ausgezeichnete größte Maßeinheit gibt, ist eine natürliche Frage, die wir gleich unten bejahen werden.
Wieder als allgemeine Hypothese formuliert:
Weltbild der Pythagoreer, klassische Fassung
Je zwei Größen sind kommensurabel.
Gilt x m = y n für zwei Größen x und y, so setzen wir z = x/n [ = y/m ]. Dann ist x = n (x/n) = n z und y = m (x/n) = m z. Damit haben wir mit z eine Maßeinheit für x und y gefunden. Gilt umgekehrt x = n · z und y = m · z, so ist m x = n y. Insgesamt haben wir damit gezeigt, dass die Vervielfachungshypothese und das pythagoreische Weltbild äquivalent sind.
Die Vervielfachungshypothese mag auf den allerersten Blick fragwürdiger erscheinen als die Kommensurabilitäts-Behauptung. Wir betrachten x, 2x, 3x, … und y, 2y, 3y, …. Die Behauptung der Vervielfachungshypothese ist, dass diese beiden Reihen einen gemeinsamen Punkt haben. Eine Maßeinheit für x und y finden zu können, scheint vielleicht glaubwürdiger. Das algebraisch fast triviale Argument „x = n · z und y = m · z folgt m x = n y“ straft diese Intuition Lügen.
Wir definieren:
Weltbild der Pythagoreer, Umformulierung
Alle Größen x und y haben ein rationales Verhältnis.
Interpretieren wir nun modern „positive Zahlgröße“ als „Element von ℝ+“, so erhalten wir:
Weltbild der Pythagoreer, moderne Fassung
Es gilt ℝ = ℚ.
Die Äquivalenz der beiden Fassungen erhält man durch die Wahl von y = 1 für die eine Richtung bzw. aus der Abgeschlossenheit der positiven rationalen Zahlen unter Division für die andere Richtung. Das Einbeziehen der Null und der negativen Zahlen ist offenbar problemlos.
Auch Euklid hält den Zusammenhang kommensurabler Größen mit den rationalen Zahlen in zwei Sätzen fest:
Euklid (um 300 v. Chr):
„[ X. Buch ] § 5. Kommensurable Größen haben zueinander ein Verhältnis wie eine Zahl zu einer Zahl…
§ 6. Haben zwei Größen zueinander ein Verhältnis wie eine Zahl zu einer Zahl, dann müssen die Größen kommensurabel sein.“
Pythagoras wird der Lehrsatz „Alles ist Zahl“ zugeschrieben, die Welt besteht aus (natürlichen) Zahlen, ist nach Zahlverhältnissen geordnet. Obiges „Weltbild“ darf man dann als eine Folge dieser Lehre ansehen.
„Alles ist Zahl“ ist möglicherweise eine Simplifizierung der Sicht des Pythagoras. Bei Aristoteles lesen wir, dass die Pythagoreer die Prinzipien der Mathematik für „die Prinzipien alles Seienden“ hielten, und entsprechend der Bedeutung der Zahlen für die Mathematik „nahmen sie [ die Pythagoreer ] an, die Elemente der Zahlen seien Elemente alles Seienden, und der ganze Himmel sei Harmonie und Zahl“ (Aristoteles, Metaphysik § 985f). Das ergibt doch ein weitaus komplexeres Bild als die etwas grobe Formel „Alles ist Zahl“.
Die Kommensurabilität ist in jedem Falle eine tragende Säule der allgemeinen pythagoreischen Harmonielehre. Das Fundament des Gebäudes bildet die Musik: Der Zusammenhang zwischen Tonhöhe und Länge der angeschlagenen Saite wird zum Urphänomen erklärt. Die hörbare Harmonie gewisser Verhältnisse der Saitenlängen bindet die Arithmetik und Geometrie ein. Weiter wird noch die Astronomie als viertes Gebiet im Reich der Harmonie ausgezeichnet. Damit war für die entstehende pythagoreische Schule der sog. „Mathematiker“ − im Gegensatz zu den die pythagoreischen Lebensweisheiten tradierenden sog. „Akusmatikern“ − ein umfassendes und vor allem dynamisch erforschbares Weltbild mit einem Quadrivium geschaffen. Zur Tradition der „Mathematiker“ zählen Hippasos und auch Platon und Aristoteles.
Auf das Verhältnis zweier Größen kommt es also an, und dieses ist, so das Postulat, immer auch das Verhältnis zweier Vielfacher einer Einheit. So wie man zwei Strecken der Längen n und m durch iteriertes Aneinanderlegen von Stäben der Länge 1 perfekt ausmessen kann, so kann man doch auch zwei beliebige Strecken der Länge x und y durch iteriertes Aneinanderlegen von Stäben der Länge z restlos ausmessen, wenn man z geeignet wählt. Zu zwei Größen muss nur die mehr oder weniger verborgene Eins der beiden Größen gefunden werden, die die beiden Größen dann in einem klaren und harmonischen Licht erscheinen lässt
Es fließen nun so wundervolle Dinge wie der Euklidische Algorithmus und die Kettenbruchdarstellung von reellen Zahlen aus dieser königlichen Idee der Harmonie der Paare. Diesen beiden eng miteinander zusammenhängenden zeitlosen Gegenständen der Mathematik, die man auf der Suche nach der verlorenen Eins findet, wollen wir uns zuerst zuwenden, bevor wir zur eigentlichen Entdeckung des Hippasos zurückkommen, die die so fruchtbare klassische Idee nicht zerstört hat, aber sie doch vom Thron der Welterkenntnis ins immer noch ehrenvolle Reich der großen romantischen Intuitionen verwies.