Das regelmäßige Pentagramm

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 Die Idee der Verhältnismäßigkeit zweier beliebiger Größen war schön und fruchtbar, aber nicht richtig. Ironischerweise war es nun gerade das Ordenssymbol der Pythagoreer, das regelmäßige Pentagramm, an dem Hippasos seine erschütternde Entdeckung gemacht haben soll: Es enthält nämlich zwei Größen, deren Wechselwegnahme die Vielfachheitsfolge 1, 1, 1, … liefert, die also im irrationalen Verhältnis [ 1, 1, 1, …  ] zueinander stehen.

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Wir wollen uns ein solches Pentagramm − auch Fünfstern oder Sternfünfeck genannt − einmal genauer ansehen.

 Pentagone (regelmäßige Fünfecke) lassen sich leicht in sich selbst reproduzieren: Aus einem Pentagon A0B0C0D0E0 erhalten wir durch wiederholtes Einzeichnen aller Diagonalen neue Pentagone AnBnCnDnEn (und Pentagramme AnCnEnBnDn). Es seien nun a0, a1, a2, … die Seitenlängen der Pentagone, und b0, b1, b2, … die Längen ihrer Diagonalen, also etwa b0 = A0C0, b1 = A1C1, … Elementare geometrische Beobachtungen führen zu den Gleichungen:

(i)b1  =  b0 − a0, allgemein  bn + 1  =  bn − an,
(ii)a1  =  a0 − b1, allgemein  an + 1  =  an − bn + 1,
(iii)b0/a0  =  a0/b1, allgemein  bn/an  =  an/bn + 1,
(iv)a0/b1  =  b1/a1, allgemein  an/bn + 1  =  bn + 1/an + 1.

zu (i) und (ii):  es gilt B0D0 = b0, D0E1 = a0, D1B0 = E1B0 = E1C1 = b1.

zu (iii) und (iv):  betrachte D0B0A0, D0E1C1 und D0A1B1.

 Setzen wir c2n = bn, c2n + 1 = an, so ist 〈 cn | n  ∈   〉 eine monoton gegen 0 konvergierende Folge, und für alle n gilt cn + 2  =  cn − cn + 1 und cn/cn + 1  =  cn + 1/cn + 2.

 Der Algorithmus von Euklid, angewendet auf b0 und a0, liefert also die Gleichungen (G0), (G1), …, (G2n), (G2n + 1), …, n  ∈  , wobei

(G2n)  bn =  1 · an + bn + 1 (denn bn = an + (bn − an)),
(G2n + 1)an =  1 · bn + 1 + an + 1 (denn an = bn + 1 + (an − bn + 1)).

Das Verfahren produziert also die Größen bn und an der einbeschriebenen Pentagone AnBnCnDnEn. Es terminiert nicht, und damit haben die beiden wesentlichen Größen b0 und a0 eines regelmäßigen Fünfecks kein rationales Verhältnis zueinander: b0 und a0 sind nicht kommensurabel! Das Aushängeschild der Pythagoreer enthält also ein zwar nicht offensichtliches, aber doch für jedermann sichtbares Gegenbeispiel zu einer der Hauptthesen der Gruppierung. Eine der großen Entdeckungen der Wissenschaft ist damit auch mit einem zeitlosen Witz verbunden.

 Das Verhältnis b0/a0 ist zu großem Ruhm in der Kunst, Architektur, Graphik und Typographie gelangt, und taucht keineswegs nur im Pentagramm auf. Aus der Identität

b0/a0  =  a0/b1  =  a0/(b0 − a0)

gewinnt man die Gleichung x2 − x − 1 = 0 mit x = b0/a0. Diese hat die positive Lösung g = 5 + 1)/2 ∼ 1,6180339887, bekannt als goldener Schnitt.

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 Die Vielfachheits-Koeffizienten des Euklidischen Algorithmus für das Paar b0 und a0 sind konstant gleich 1. Es gilt also g = (5 + 1)/2 = [ 1, 1, 1, … ] = lim ∞ qk + 1/qk, mit der Fibonacci-Folge 〈 qk | k  ∈   〉.

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 Mathematisch gewinnt man den goldenen Schnitt aus den Gleichungen x = 1 + 1/x oder x(x − 1) = 1, die zu obigem Polynom x2 − x − 1 führen. Für den Kehrwert von g gilt 1/g = g − 1 = (5 − 1)/2.

 Die vielleicht einfachste geometrische Konstruktion des goldenen Schnitts ist: Um die Strecke AC der Länge a im goldenen Schnitt zu teilen, bildet man ein rechtwinkliges Dreieck wie in der Figur, und trägt a/2 an der Hypotenuse von B aus ab. Den Rest b = a/2(5 − 1) der Hypotenuse überträgt man von A aus auf AC. Der Schnittpunkt D teilt dann AC im goldenen Schnitt. Das Verhältnis wird im Allgemeinen als harmonisch und interessant empfunden, im Gegensatz etwa zur langweiligen und kalten Halbierung. Es gilt b2 = a(a − b). Spiegelt man den Punkt C an D, so teilt der Spiegelpunkt C′ die Strecke DA der Länge b wieder im goldenen Schnitt.

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 Die Diskussion des Pentagramms wäre ohne eine Konstruktionsmethode noch unvollständig. Regelmäßige Polygone mit n Ecken, n ≥ 3, lassen sich nach einem berühmten Satz von Gauß genau dann mit Zirkel und Lineal konstruieren, wenn die ungeraden Primfaktoren von n alle nur einfach auftreten und zudem alle von der Form 22k + 1 sind. So sind regelmäßige Polygone mit 3, 6, 12, …, 4, 8, 16, …, 5, 10, 20, …, 15, 30, 60, …, 17, 34, 68, …, 51, …, 85, … Ecken konstruierbar mit Zirkel und Lineal, regelmäßige Polygone mit 7 oder 9 Ecken jedoch nicht. Die tatsächlichen Durchführungen sind dabei in vielen Fällen sehr trickreich. Bereits bei Euklid findet sich die Konstruktion eines regelmäßigen Fünfecks in einem vorgegebenen Kreis (4. Buch, § 11). Die Konstruktion oben geht auf Richmond 1893 zurück. Man bildet über dem Mittelpunkt eines Kreises vom Radius a eine Senkrechte der Länge a/2, und verbindet ihren Endpunkt A mit D. Die Winkelhalbierung bei A liefert den Punkt B, und die Senkrechte auf B führt zu C. Die Strecke CD ist dann eine der Seiten eines Pentagons, das in den ursprünglichen Kreis einbeschrieben ist. Die restlichen Seiten lassen sich nun aus dieser Seite konstruieren. Der Leser mag versuchen zu beweisen, dass dieses Verfahren tatsächlich ein regelmäßiges Fünfeck − und damit ein Pentagramm − erzeugt.